Wie Theodor Storm Weihnachten feierte

 

Von älteren Männern sagt man gelegentlich, dass sie kindisch werden; Storms Tochter Gertrud vermittelt uns in einigen Beiträgen über ihren Vater ein Bild, das diesem Klischee vollkommen zu entsprechen scheint. Kaum erinnert sie sich die erwachsene Frau an Weihnachten, so tritt ihr Vater mit einem geheimnisvollen Gesicht in das festlich geschmückte Wohnzimmer ein, sieht seine Kinder innig an und spricht mit leiser, „wie von Musik getragener Stimme“ nur das eine Wort: „Weihnachten“.

Die Erinnerung an das Familienfest hat sich bei dem jungen Mädchen, das später zur Biographin ihres Vaters wurde, tief eingeprägt und das aus gutem Grund. Bei den Storms galt Weihnachten als das bedeutendste aller Familienfeste und wurde ausgiebig gefeiert; das Familienoberhaupt spielte dabei eine herausragende Rolle. Bereits als Kind bedeutete Theodor Storm das Christfest viel, und später hat er als Familienvater fast vier Jahrzehnte einen Kult um die Weihnachtstage betrieben, der seinesgleichen sucht.

Weihnachten in Husum, das bedeutete in bürgerlichen Kreisen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein großes Familientreffen, bei dem ausgiebig gegessen und getrunken wurde. Dass es sich um ein Hauptfest der Christenheit handelt, bei dem der Menschwerdung Gottes und seines Heilsversprechens gedacht wird, war nach der Zeit der Aufklärung längst in den Hintergrund gedrängt worden. Der Familienverband als zentraler Bezugsrahmen, innerhalb dessen sich das Leben des einzelnen vielfältig entfaltete, benötigte nun einen angemessenen Rahmen. Diesen boten Anlässe wie Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen und eben das Weihnachtsfest, bei dem sich die Großfamilie versammelte: Vater, Mutter, die Großeltern, Tanten und Onkel und natürlich die Kinder. So hat es Theodor Storm als Kind im Kreise seiner Geschwister selbst erlebt, so hat er es als Vater von acht Kindern und später als Großvater vieler Enkel ausgiebig zelebriert.

Schon in der 1840er Jahren erwähnt er in seinen Briefen den großen Tannenbaum, dessen Spitze bis an die Decke reichte und der nicht nur mit Kerzen bestückt, sondern auch mit umfangreichem Dekor geschmückt wurde, mit Äpfeln, Nüssen und Zuckerzeug. Wie sehr die christliche Botschaft bereits in den Hintergrund getreten war, lässt die Dekoration des Baums erkennen, den Storm mit seinen Studienfreunden zum Weihnachtsfest 1840 in Kiel aufstellte: „von der Spitze zu jeder Seite hinab hängen zwei lange, weißseidene Fahnen, auf der einen die Wappen von Schleswig und Holstein, darunter der Königsausspruch, der die bleibende Vereinigung dieser beiden Herzogtümer ausspricht: ‚wie laven dat Sleswik und Holsten bliven ewig tosamende ungedeelt!’ – auf der andern Fahne das Husumer Stadtwappen, als Umschrift ein Vers aus dem alten Studentenliede: ‚Süßer Traum der Kinderjahre, kehr noch einmal uns zurück.’“

Diese Funktionalisierung des Weihnachtsbaums zu einem Symbol des politischen Manifests für die nationale Unabhängigkeitsbewegung im Herzogtum Schleswig, das damals Teil des Königreichs Dänemark war, lässt sich aus dem hohen Stellenwert erklären, dem der Kampf um Sprache und Nationalität vor der bürgerlichen Revolution von 1848 vor allem in den Herzogtümern zugewiesen wurde. Zehn Jahre später, nachdem die Blütenträume eines geeinigten deutschen Vaterlands geplatzt waren, verzichtete der jungen Familienvater Theodor Storm fast völlig auf politische Symbole zum Weihnachtsfest. Von nun an galt es, kleinen Kindern etwas zu bescheren; also hängte man Frösche, Affen, gelbe Wurzeln, nackte Wachskinder, Glaskugeln, vergoldete Eier, Walnüsse und Pflaumen, Rosinengirlanden, Rauschgoldstreifen und mit Bonbons gefüllte weiße Papiernetze in den Baum; als Konzession an die politische Gegenwartsstimmung aber auch Schleswig-Holsteinische Dragoner und Trommelschläger.

 

 

Der Weihnachtsbaum blieb in den folgenden Jahrzehnten der Mittelpunkt der Stormschen Weihnacht. Selbst in den Jahren des Exils, als die Familie zunächst in Potsdam und danach für acht Jahre in Thüringischen Eichsfeld wohnte, wurde der Baum in gleicher Weise wie zuvor in Nordfriesland geschmückt. In der Heiligenstädter Zeit (1856-1864) kamen vergoldete Tannen- und Fichtenzapfen sowie Erlensamen hinzu; hier erfand Sohn Ernst auch den „Märchenzweig“, einen Lärchenzweig, der mit Schaumgold überzogen wurde. In der Zeit des zweiten Husumer Aufenthalts (1864-1880) hängte man Puppen aus Wachs und Papiermache sowie Engelsfiguren aus Nürnberg in den Baum, dessen Spitze ein goldener Stern schmückte. Seit 1880 wurde in der großzügigen Villa in Hademarschen, wo Storm bis zu seinem Tode wohnte, zunächst silbernes Lametta, bald auch goldfarbenes in den Baum gehängt. Außerdem erwähnt Storm in der Novelle „Unter dem Tannenbaum“ noch folgenden Baumbehang, der mittels lichtgrüner Seidenbänder befestigt wurde: Marzipanfiguren (Eichhörnchen, Hase, Himbeeren, Erdbeeren), Figuren aus dem süßen pflanzlichen Tragant, (Hornissen, Hummeln, Honigwaben) und aus Schokolade (Hirschkäfer) sowie Tiere aus Papiermaché (Schmetterlinge, Dompfaff, Buntspecht, Goldhörnchen oder Zeisige sowie Kreuzschnäbel und Rotkehlchen mit ihrem Nest).

Lässt man die Objekte Revue passieren, die bei den Storms zwischen 1840 und 1888 den Weihnachtsbaum schmückten, so erhält man einen guten Überblick, der den Traditionswandel von der Biedermeierzeit zu den Gründerjahren veranschaulicht. Vor 1850 dominierte der selbst gebastelte Baumschmuck, bei dem die regionalen Besonderheiten Norddeutschland auffallen: In der Natur vorgefundene Objekte wie Nüsse, Tannen- und Erlenzapfen sowie Trockenpflaumen wurden vergoldet; Rosinen auf Fäden zu Girlanden aufgezogen, die beim Kerzenlicht des brennenden Baumes wie Bernsteine leuchteten. Besuchern aus anderen deutschen Regionen mag auch aufgefallen sein, dass man in Husum vor der Erfindung von Glaskugeln vergoldete Eier in den Baum hing. Seit Beginn der 1860er Jahre kommt handwerklich produzierter Baumschmuck aus Glas in Mode, später ersetzt industriell gefertigtes Lametta das traditionelle Knittergold.

 

 

Beim Verzieren von Baumbehang bediente man sich des Christbaumgoldes, des Schaumsilbers und der Bronze. Das waren Metallprodukte, die der Handel speziell in der Vorweihnachtszeit anbot, um damit diverse Objekte einzufärben, die dann an den Tannenbaum gehängt werden konnten. Ähnlich wie das Blattgold der Juweliere wurde Messing zu hauchfeinen Plättchen geschlagen, die man auf einen entsprechend vorbereiteten Untergrund auftragen konnte. Dazu strich man Eier, Nüsse u.s.w. mit verschlagenem Eiweiß ein und konnte nach einem Trocknungsprozess mit Hilfe von feinen Pinseln das blattgoldartige Messing auftragen. Ähnlich machte man es mit Stanniol und Bronzestaub. Wenn man dann die so veredelten Objekte mit einem feinen Tuch abrieb, waren sie im Kerzenglanz von echt versilberten oder vergoldeten Objekten kaum noch zu unterscheiden.

Eine Besonderheit des Weihnachtsbaumschmucks der Storms waren die Netze; dafür wurden weiße Papierblätter kunstvoll gefaltet und dann mit einer Schere so aufgeschnitten, dass sich beim Auseinanderfalten ein feines Netzwerk ergab, in das sorgfältig in farbige Tonpapiere eingewickelte Bonbons gelegt wurden und die man dann an grünen Seidenbändern in den Baum hängen konnten. In all diese Vorbereitungsarbeiten bezogen Constanze und Theodor Storm die Kinder mit ein und Dorothea, die zweite Frau des Dichters, hat es nach dem Tode von Constanze ebenso gehalten. Auch befreundete Ehepaare kamen, um beim Schmücken des Baumes zu helfen.

Die Tatsache, dass Storm in seinen Briefen an Freunde und Bekannte so häufig und mit solcher Intensität von seinen Weihnachtsvorbereitungen spricht und schreibt, mag auf den ersten Blick verwundern, da doch bekannt ist, dass der Dichter mit christlichen Symbolen nicht viel im Sinn hatte; sein Verhältnis zur Kirche war mehr als unterkühlt, der christliche Glaube bedeutete ihm wenig, er war kein regelmäßiger Kirchgänger und bedurfte der Institution Kirche nur dort, wo es unumgänglich war, etwa bei der Legitimation seiner beiden Ehen, da eine Ziviltrauung damals noch nicht möglich war. Die bürgerliche Familie, wie sie Theodor Storm sich vorstellte, gewinnt ihre Grundlage aus der gelungenen Beziehung von Mann und Frau; hier liegt die Quelle für Freud und auch für Leid, wenn diese Beziehung misslingen sollte. Wie kommt es dann aber, dass ein Mensch, den man getrost als einen Agnostiker bezeichnen kann, so viel emotionale Energie auf eines der zentralen Feste des Christentums verwendet hat?

 

 

 

Das Weihnachtsfest hatte sich im 19. Jahrhundert immer mehr von einem christlichen zu einem Familienfest gewandelt; vor allem im Bürgertum wuchs die Bedeutung der Familie als der Mittel- und Angelpunkt des Lebens. Der Mann war für den Außenbereich zuständig, hatte den Beruf und musste für die ökonomische Grundlage des Familienlebens sorgen; der Frau oblag die Hauswirtschaft und die Aufzucht der Kinder. Diese ursprüngliche Versorgungsgemeinschaft wurde mehr und mehr ideologisch überhöht, es entstand das Bild der liebevollen Hausfrau, die dem Manne die Geborgenheit und Wärme zu vermitteln hatte, deren er bedurfte, um zu Hause im Kreise der Lieben von den Anstrengungen der Erwerbstätigkeit auszuruhen und neue Kräfte für die harten Auseinandersetzungen in der kapitalistischen Wettbewerbswelt zu sammeln.

Ein solcher Rückzugsort braucht eine angemessene Ausstattung; statt der Wirtschaftsräume, die im Bauernhaus benötigt wurden, und statt der festlichen Säle, in denen der Adel seine Selbstdarstellungen inszenierte, benötigte das Bürgertum nun ein Wohnzimmer, das zum Mittelpunkt des Hauses wurde, in dem sich die Behaglichkeit des Familienlebens – von der feindlichen Umwelt abgeschottet – entfalten konnte. Um das Weihnachtsfest begann sich ein Kult zu entwickeln, der landschaftlich sehr unterschiedlich ausgeprägt war, dessen Rituale sich aber mit erstaunlicher Zähigkeit bis in unsere Tage erhalten haben.

Eine wichtige Bedeutung hatten und haben die Weihnachtsgeschenke vor allem für die Kinder; erst durch die Bescherung erhält das Fest jene prickelnde Bedeutung, die alle Kinderherzen höher schlagen lässt. Bei den Storms spielten Bücher als Weihnachtsgaben immer eine besondere Rolle; an sonstigen Geschenken für die Knaben werden erwähnt: Bilderbücher, Trommeln, ein Transparentkasten, eine lebende Wachtel in grünem Käfig, Baukästen, Flinten mit Knallkorken, eine Menagerie von Tieren aus Papiermaché in Käfigen mit Messingstangen, ein Kramladen, ein ausgestopftes Kaninchen und ein Schaukellamm. Die Mädchen erhielten ebenfalls Bücher sowie Puppen, die jährlich wieder aufgeputzt wurden; 1877 schenkte man den Töchtern Friederike und Gertrud je eine Wachspuppe mit zugehöriger Puppenwiege. Für die ganze Kinderschar bestimmt waren Münchener Bilderbogen, eine Laterna Magica und ein Kasperle-Theater („Putschenillekasten“) mit Handpuppen aus Hamburg.

 

 

Wie so viele persönliche Erfahrungen, die dem Dichter bedeutsam waren, hat er auch seine Weihnachtserlebnisse dort literarisch genutzt, wo sie ihm geeignet erschienen, die erfahrene Wirklichkeit poetisch zu überhöhen. In der Novelle „Unter dem Tannenbaum“ erzählt Storm von einem Beamten mittleren Alters, der mit seiner Frau und ihrem zehnjährigen Sohn fern der Heimat ein wenig einsam das Weihnachtsfest begeht. Die Novelle weist übrigens starke autobiographische Züge auf. Gemeinsam mit seiner Frau erinnert sich der Erzähler an frühere Weihnachtsfeste im Kreis der großen Familie. Einen Baum haben sie in ihrer Gegend nicht auftreiben können, so dass die Festtagsstimmung etwas getrübt ist; doch ein geheimnisvoller Mann bringt zwei riesige Pakete, aus denen ein Lichterbaum und vielerlei Zierrat und Geschenke ausgepackt werden. Es handelt sich um das Überraschungsgeschenk einer der Familie verpflichtete Gutsbesitzerin. So endet die sentimentale Erinnerung an die Heimat in einem richtigen Weihnachtsfest, in dessen Mittelpunkt der geschmückte Tannenbaum steht. Nach der überraschenden Bescherung erinnert man sich noch einmal an die ferne Heimat. Da erzählt der Vater seinem Sohn von den Vorfahren, von der Tradition der Generationen, von ihrem Leben und ihrem Tod.

Das ist keine weltfremde Idylle, sondern eine Wahrnehmung von Familie, in der der Einzelne sein Dasein in eine Kette der Vorfahren und der Nachwelt einordnet und erst aus dieser festgefügten Ordnung in der Zeit die Gewissheit seiner eigenen Existenz erhält. Storm versteht sich ganz wie der Erzähler in dieser Novelle als Erbe einer Tradition, die vom Fleiß und von der Tüchtigkeit mehrerer Generationen geprägt wurde. Das Haus als das eine Sinnbild dieser Tradition wird vom Vater gebaut und dient dem Sohn und dem Enkel als sichere Behausung; der Sohn bewährt sich zuerst in der Fremde und lernt die Welt kennen, dann kehrt er nach Hause zurück und wirkt tätig in der Heimat. Zwar stirbt der Vorfahre, der das Haus gebaut hat, doch sein Werk lebt weiter im Sohn, der eben in diesem Sinne des Vermächtnisses seines Vaters schaffend tätig ist und diese Tradition auf seinen eigenen Sohn vererbt. „Wohldenkend“ und „angesehen“ waren diese Männer, und sie haben „ihr Vermögen auf mannigfache Weise ihren Mitbürgern zugute kommen“ lassen. Das Verhältnis zu den anderen Bürgern der Stadt wird als „das Verhältnis des gegenseitigen Vertrauens“ bezeichnet. Zu diesem Idealbild eines schöpferisch tätigen Bürgertums gehört aber auch das, was „in die Tiefe“ gebaut wurde: Neben das Haus tritt als zweites Symbol die Familiengruft, die die Toten beherbergt. Auch sie sind Teil des Lebens, als Erinnerung für die noch Lebenden nämlich und als Vorbilder für ihr Tun. Und es ist aufschlussreich, dass der Erzähler sagt: „Und seltsam, da ich das inne ward, daß ich fort mußte, mein erster Gedanke war, ich könnte dort den Platz verfehlen.“

Der Verlust der Heimat ist nicht nur der Verlust des Hauses, der Behausung, sondern auch der Verlust des Grabes. Und das kann doch nur so gedeutet werden, dass Storm erst im vollendeten Leben den ganzen Sinn seines Daseins zu erblicken vermochte. Zwar schreckt der Tod in seiner Ungewissheit und Unerklärbarkeit; aber er ist doch zugleich ein Teil des Lebens. Mit ihm endet das Leben des Einzelnen, doch das, was sein Wesen ausmacht, lebt fort in der Tradition der Familie.

Und das ist der Schlüssel zum Verständnis dieses Novellenschlusses. Storm sieht den Sinn des Lebens ganz allein im tätigen Leben selbst. Jeder hat sich zu der guten Tradition zu bekennen, in die er von Geburt gestellt ist. Er ist aber dieser Tradition auch verpflichtet und hat sich zu bewähren. Das Gelingen und das Misslingen solcher Bewährungen schildert der Dichter uns in seinen Novellen am Beispiel der Lebenswege seiner Helden. Und dass der Weihnachtstag inmitten dieses Lebens eine so große symbolische Bedeutung erlangen konnte, verstehen wir jetzt besser, weil man sich an diesem Tag im Kreise der Familie an die Vergangenheit erinnern, aber zugleich mit seinem tätigen Wirken für die Kinder schon auf die Zukunft hin wirken kann. So ist aus dem Fest der christlichen Verheißung eines zukünftigen Heils ein Fest der Familie geworden, die ihren Mitgliedern Kraft geben kann, um im Leben den Gefährdungen durch die Außenwelt zu widerstehen. Theodor Storm versucht also im Weihnachtsfest nicht nur den „ganzen Zauber der Weihnacht seiner Kindheit“ in einer jährlich wiederkehrenden sentimentalen Erinnerungsfeier zu bewahren, wie es seine Tochter Gertrud uns nahe bringen wollte; er hat vielmehr auch von der Gefährdung des bürgerlichen Lebens gewusst, von den Widersprüchen zwischen der inneren Welt der Familie und dem harten Leben draußen. Der Leser mag nur aufmerksam das Gedicht „Weihnachtsabend“ lesen, dann kann er etwas von den Ängsten nachempfinden, die den Dichter oft beschlichen haben. Auch dieses Gefühl gehört, wie die selige Kindheitserinnerung, zu Storms Weihnachten.