Die Radfigur des Liesborner EvangeliarsEinen Anleitung zum Lesen

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Das Liesborner Evangeliar. Ein Buch für die Ewigkeit

 

Von der Mitte des 9. Jahrhunderts bis 1130/31 war die Abtei Liesborn ein freiweltliches Damenstift. An diese Frühzeit der Liesborner Klostergeschichte erinnert nur noch wenig. Highlight ist aber zweifellos das Liesborner Evangeliar. Der Codex ist eine der ältesten, vollständig erhaltenen Evangelien-Handschriften Westfalens. Nach der Aufhebung des Klosters durch das Königreich Preußen im Zuge der Säkularisation 1803 verließ der Codex jedoch Liesborn und wanderte durch die Hände einiger bedeutender Privatsammler in Europa und Übersee, bevor er 2017 vom Kreis Warendorf mit der Unterstützung zahlreicher Förderer zurückerworben werden konnte. 220 Jahre nach der Schließung des Klosters Liesborn kehrt das Evangeliar im Jahr 2023 an seinen ursprünglichen Bestimmungsort zurück und bildet das Leitobjekt der neuen Dauerausstellung zur Frühgeschichte der Abtei Liesborn, die sich mit der Gründungslegende des Klosterortes und dessen Entwicklung in den ersten Jahrhunderten auseinandersetzt.

Im sakral anmutenden Evangeliarraum werden schließlich Besonderheiten der liturgischen Handschrift wie das am Anfang stehende lateinische Widmungsgedicht, das die um 1040 amtierende Äbtissin Berthildis als Stifterin des Buches nennt oder das sogenannte „Pater-Noster-Diagramm“ vorgestellt und für die verschiedenen Sinne erfahrbar gemacht.

Neben dem Evangeliar gehört auch eine digitale Klosterbibliothek, die noch um bedeutende Exponate ergänzt werden soll, zur neuen Dauerausstellung des Museums. So kann virtuell durch die Seiten des Evangeliars geblättert werden; auch eine Transkription des in karolingischen Minuskeln geschrieben Textes sowie eine deutsche Übersetzung stehen zur Verfügung.

 

Museum Abtei Liesborn, Pressefoto
https://www.museum-abtei-liesborn.de/evangeliar

 

 

 

Die Radfigur des Liesborner Evangeliars

 

 

Museum Abtei Liesborn, Pressefoto

 

 

Transkription und Übersetzung

 

 

 

Markierungen

A E: Ringe von außen nach innen; F: innerer Kreis

1-7: Strahlen im Urzeigersinn

 

Karolingische Minuskel

 

Diakritische Zeichen und Abkürzungen

<Text> Ergänzung

Text auf abknickendem, nach außen weisendem Speichenabschnitt

[darüber]: über dem im jeweiligen Strahlenabschnitt stehendem Text

SPB: Seligpreisungen der Bergpredigt

(Matthäus 5,1-12)

GHG: Gaben des Heiligen Geistes

(Jesaja 11,2-3)

VUB: Vaterunserbitten)

(Matthäus 6,9-13)

 

 

A: SVBSCIPTVS PATRIE REDITVM DOCET ORDO FIGVRE

B: VII PETICIORNAES [PETITIONES]

C: DONA SANCTI SP<IRITV>S

E: BEATITVDO

F: DEVS

 

 

1: (B) Sa<ncti>ficet<tur> - n<omen tuum>. VUB 1

(C) Spiri<tu>s sapienciae. [darüber] Incarnatio. GHG 1

(D) <Beati> Pax<ifici: quoniam filii Dei>  Sat<ur>ab<untur>. SPB 7

 

2: (B) S<ed> lib<er>a nos a malo.> VUB 7

(C) Sp<iritus> timoris <Domini>. [darüber] Dies iudi/ scii. GHG 7

(D) <Beati> Paup<eres spiri>t<u: quoni>a<m ip>s<orum est regnum caelorum>. Misecor<d>ia co<n>seq<uentur>. SPB 1

 

3: (B) E<t> ne nos <inducas in tentationem>. VUB 6

(C) Sp<iritus pietatis. [darüber] Ascensio. GHG 6

(D) <Beati> M<ites: quoni> an< ip>s<i possideb>u<nt t>er<ram>: <gaudete, et exsultate, quoniam> M<erces vestra copiosa est> in <caelis. Sic enim persecuti sunt prophetas, q>ui f>uerunt ante vos. SPB 2

 

4: (B) E<t> dimitte <nobis debita nostra, sicut et nos dimittimus debitoribus nostris>: VUB 5

(C) Sp<iritus> sciencie: [darüber] Resurrectio. GHG 5

(D) <Beati qui> Lu<gen>t, <quoniam ipsi consolabuntur>. <Beati estis cum maledixe>Rin<t vobis, et persecuti vos fuerint, et> dix<erint omne malum adversum vos mentientes, propter me:> SPB 3

 

5: (B) Pane<m> n<ost>rum supersubstantialem da nobis hodie>. VUB 4

(C) Sp<iritus fortit<ud>i<n>is. [darüber] De<s>ce<n>s<us> ad infe/ r<i>as. GHG 4

(D) <Beati qui esuriunt et sitiunt> Justicia<m: quoniam ipsi saturabuntur>. Regnu<m> c<aelorum>. SPB 4

 

6: (B) Fiat vol<untas tua, sicut in cœlo, et in terra>. VUB 3

(C) Sp,<iritus c>o<n>silii [darüber] Passio. GHG 3

(D) <Beati misericordes: quoniam ipsi> Mis<eri>c<or>dia<consequentur>: Pos<s>ideb<unt> t<erram>. SPB 5

 

7: (B) Adueniat <regnum tuum>. VUB 2

(C) Sp<iritus> intellig<tus>. [darüber] Baptismvs. GHG 2

(D) <Beati> Mu<n>di c<o>r<di>a <quoniam ipsi Deum videbunt>. <Beati qui lugent: quoniam ipsi Co> nsolab<untur. SPB 6

 

 

Eine Anleitung zum Lesen

Die mit Zirkel und Lineal konstruierte Figur besteht aus sechs konzentrischen Kreisen, in die sieben speichenartige Stahlen eingezeichnet sind, die vom äußeren Kreis bis zum Ende von Kreissegment D reichen. Von dort sind – etwas nach rechts versetzt – jeweils kleinere Strahlen in Ring D eingezeichnet. Man kann die Figur als Rad bezeichnen, bei dem die mittlere Kreis F die Nabe und die Strahlen 1 bis 7 die Speichen darstellen.

Die Kreissegmente A, B, C. D und E und der innere Kreis F enthalten in Karolingischen Majuskeln geschriebene Texte, die vom Mittelpunkt aus im Uhrzeigersinn gelesen werden können. Der Anfang der Texte wird durch die senkrechte Speiche 1 und zwei Kreuze in den Kreissegmenten A und D bestimmt. Nur im Kreissegment B steht die römischen Ziffer VII links vom Strahl.

Die Strahlen dienen als Liniierung für mit Karolinischen Minuskeln geschriebene Texte, bei denen die Anfangsbuchstaben der Wörter zum Teil durch größere Schreibweise hervorgehoben sind. Linien und Buchstaben sind mit dunkelbrauner und roter Tinte gestaltet. Die Texte stehen rechts auf den Strahlen und werden von außen nach innen gelesen. Über den Textabschnitten im Kreissegment C stehen einzelne Wörter, die Tugenden, Eigenschaften oder Haltungen benennen und sich auf die jeweils vorstehenden Sentenzen beziehen. Es handelt sich nach Ulrich Rehm „um zusammenfassende Bezeichnungen einzelner heilsgeschichtlicher Ereignisse aus dem Leben Jesu, wie die Evangelien insgesamt es beschreiben.“ (S. 158)

Die Texte auf den kürzeren Strahlen im Segment D werden von innen nach außen gelesen.

 

Die Reihenfolge der Vaterunserbitten, mit denen die Texte auf den Strahlen im Kreissegment B beginnen, regt zu einer Lektüre gegen den Uhrzeigersinn ein, also: 1, 7, 6, 5, 4, 3, 2. Folgt man dieser Reihenfolge, so liest man die Gaben des Heiligen Geistes (Jesaja 11,2-3) sowie die Seligpreisungen der Bergpredigt (Matthäus 5,1-12) in rückläufiger Folge.

 

 

In dieser Lesereihenfolge lautet der Text in deutscher Übersetzung:

 

Text der Ringe und des inneren Kreises (von außen nach innen)

A: Die Rückkehr ins Vaterland lehrt die darunter angeordnete Figur

B: Sieben Bitten

C: Gaben des Heiligen Geistes

E: Seligkeit

F: Gott

 

Text der Strahlen (um Uhrzeigersinn von außen nach innen)

1: Geheiligt werde dein Name. Geist der Weisheit – Menschwerdung. Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden. Sie werden zufrieden sein.

7: Dein Reich komme. Geist des Verstandes – Taufe. Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.

6: Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden. Geist des Rates – Passion. Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen sie werden das Land besitzen.

5: Unser täglich Brot gib uns heute. Geist der Stärke – Abstieg in die Hölle. Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden. Das Himmelreich.

4: Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern. Geist der Wissenschaft – Auferstehung. Selig sind die Trauernden, denn sie werden getröstet. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen schmähen und verfolgen, und alles Böse mit Unwahrheit wider euch reden um meinetwillen.

3: Und führe uns nicht in Versuchung. Geist der Frömmigkeit – Aufstieg in den Himmel. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Freuet euch darüber und jubelt, denn euer Lohn ist groß im Himmel. Ebenso hat man ja auch die Propheten vor euch verfolgt.

2: Sondern erlöse und von dem Bösen. Geist der Furcht Gottes – Tag des Jüngsten Gerichts. Selig sind die im Geist Armen, denn ihnen gehört das Himmelreich. Barmherzigkeit wird folgen.

 

 

Kommentar

Der Verfasser erklärt dem Leser die Bitten des Vaterunsers durch biblische Querverweise auf einen alttestamentarischen (Jesaja 11,2-3) und einen neutestamentarischen Text (Matthäus 5,1-12).

Die Figur ähnelt einem mittelalterlichen Figurengedicht, nur dass die poetischen Verse hier durch Bibelzitate ersetzt wurden.

Die Anordnung der Texte veranlasst den Leser, sich oder den Textträger während der Lektüre zu drehen und zwar in zwei spezifischen Weisen: Bei der Lektüre der in Majuskeln geschriebenen Texte drehen sich Leser im Uhrzeigersinn um das Zentrum, hier um das Wort „Gott“. Liest man hingegen die in Minuskeln geschriebene Texte, so muss der Textträger auch gedreht werden, die Leserichtung erfolgt aber vom Außenkreis hin auf das Zentrum, muss dann am Ende des Kreissegments D um ca. 50º nach rechts gewendet werden, um dann von innen nach außen weiterzulesen. Den Lektüreanschluss findet man durch einen Wechsel zum nächsten Strahl, der im Kreissegment B beginnt.

Durch diese Bewegung während der Lektüre näher sich der Leser Gott im Zentrum immer wieder an, erreicht ihn aber nicht und muss sich wieder vom Zentrum abwenden.

 

Ulrich Rehm erkennt „in der jeweiligen Lesefolge von außen nach innen einen fünfstufigen Heilsweg“. „Diese Abfolge ist als Aufstieg aufgefasst: Auf jede Bitte des Vaterunsers folgt eine Gabe des Heiligen Geistes. Diese ist verknüpft mit je einem von sieben heilsgeschichtlichen Ereignissen des Neuen Testaments (bona – Güter), in denen sich das entsprechende Wirken des Geistes offenbart. Und schließlich folgt je eine der Tugenden aus den Seligpreisungen der Bergpredigt.“ (S. 159)

Er bestimmt als theologische Voraussetzung der Deutung der Liesborner Radfigur den Bergpredigt-Kommentar des Kirchenvaters Augustinus (354-430): „Während die Seligpreisungen in aufsteigender Ordnung überliefert seien, so Augustinus, sei es bei den Gaben des Heiligen Geistes eine absteigende Ordnung. Dementsprechend kehrt er die Reihenfolge der Geistesgaben gegenüber dem Bibeltext um.“ (S. 156) Mehr als 400 Jahre später vertritt der fränkische Benediktinermönch Radbertus (um 785-um 865) „die These, nicht allein die Seligpreisung und die Gaben des Heiligen Geistes unterliegen einer siebenfachen Stufenfolge, sondern auch die Bitten des Vaterunsers. Während allerdings die Seligpreisungen nach aufsteigender Ordnung (ordo ascensionis) formuliert worden seien, sei es bei den Vaterunserbitten (wie auch bei den Geistesgaben) genau umgekehrt. Sie folgen einer absteigenden Ordnung (ordo descensionis). Dementsprechend kehrt der Autor die Abfolge der Vaterunserbitten ebenso wie die der Geistesgaben gegenüber dem Bibeltext um, so dass alle drei Septenarien im Sinne eines Aufstiegs von der niedrigsten zur höchsten Stufe angeordnet sind.“ (S. 157)

Die Anordnung der Schrift „nimmt keine Rücksicht auf eine leichte Lesbarkeit, ganz im Gegenteil: Die Schrift sowohl entlang der Kreislinien als auch entlang der Speichen ist so ausgerichtet, dass sie fortwährend entweder eine außerordentlich starke Körperbewegung oder ein Drehen des Codex erfordert oder dass die Leser*innen sich außergewöhnliche Mühe machen müssen, die Buchstaben und Wörter in verschiedenen Ausrichtungen zu entziffern, die nicht der Gewohnheit entsprechen. [...] Die Radfigur in ihrer Bewegungsdynamik“ besitzt „eine spirituelle Dimension, die vermuten lässt, dass sie als Medium einer meditativen Praxis fungieren konnte.“  (159)

 

 

Deutung

,Rückkehr des Vaterlandes'

Kommen wir zum Schluss noch einmal auf jenen Aspekt unserer Radfigur zurück, der eine weitreichende Überschreitung des Aussage- und Erfahrungsspektrums über dasjenige einer rein textlich formulierten Exegese anzustoßen vermag. Gemeint ist die originelle Art, die sieben Seligkeiten zu platzieren. Diese hätten ja ohne Weiteres auch in einem weiteren Ring, der jenem der Tugenden der Seligpreisungen folgt, als Endabschnitt der Radspeichen zur Nabe hin dargestellt werden können. Stattdessen ist der unmittelbar an die innere Kreisfläche angrenzende, schmale Ring überschriftartig als Zone der Seligkeit („BEATITVDO“) gekennzeichnet. Und während die sieben Tugenden mit den Speichen auf diesen Ring und somit auf die Radnabe hin ausgerichtet sind, richten sich die sieben Seligkeiten als Fortsetzung der Speichen jenseits der Nabe nach außen. Das heißt, sie erscheinen im Wechsel mit den Tugenden der Seligpreisungen innerhalb ein und desselben Rings, weisen jedoch in die umgekehrte Richtung. Anders als bei dem oben benannten Ro-ta-Typus innerhalb des Messtraktats Lothars von Segni, wo die Rezeptionsperspektive zwischen den Ausrichtungen von außen nach innen und von innen nach außen wechselt, bleibt im Fall unserer Radfigur die Hauptperspektive von innen nach außen gewahrt. In diesem Zusammenhang ist der hier als Titel angesehene Text des äußeren Rings von besonderem Interesse: „SVBSCRIBATVS PATRIE REDITVM DOCET ORDO FIGVRE“. Wie ist die hier angesprochene Rückkehr des Vaterlandes zu verstehen? Die Wahl des Begriffs patria ist im Zusammenhang der Rota insofern signifikant, als sie das Verständnis Gottes als eines Vaters ins Spiel bringt, wie es in der Bergpredigt Jesu mit dem Gebetstext des Vaterunsers vermittelt wird. Zwar ist die entsprechende Anrede des Gebetsauftakts in der Rota nicht zitiert, da es mit dem Vaterunser-Septenar ja dezidiert ausschließlich um die im Gebet an Gott gerichteten Bitten geht, aber das Bewusstsein dafür, dass mit dem von Jesus selbst vermittelten Gebet die Gottesperson des Vaters angesprochen wird, dürfte bei der Rezeption der Radfigur eine selbstverständliche Rolle gespielt haben. Die entsprechende Anrede im Vaterunser benennt darüber hinaus den Aufenthaltsort des angesprochenen Vaters: Pater noster qui es in caelis – Vater unser, der du bist im Himmel. In der Radfigur ist der Sitz Gottes im innersten Kreis positioniert, gewissermaßen als Ursprungsort der Figur als ganzer, die im Mittelpunkt ihren Ausgang nimmt und als Nabe aufgefasst werden kann. Es ist also dieser Sitz Gottes, der in der Titelaussage als Vaterland bezeichnet wird, oder zumindest ist dies eine mögliche Interpretation.

Unter dem Gesichtspunkt des Zirkeleinstichs als dem Ursprung des Kreises ließe sich die gesamte Figur auch als von innen nach außen gerichtet verstehen. Besonders hervorgehoben jedoch in seiner Rückwirkung nach außen wird das Septenar der Seligkeiten – einerseits dadurch, dass es mit dem Überschreiten des Zentrums auf die gegenüberliegenden Seite nach außen zielt, andererseits dadurch, dass es in gewisser Weise die konsequente Verknüpfung jedes Septenarelements mit je einem bestimmten anderen durchbricht, indem die Seligkeiten zwischen je zwei weiteren Tugenden hervortreten. Insofern ergibt die Formulierung „BEATITVDO“ im innersten Ring Sinn: Am Ende des Heilswegs von außen nach innen kommt es offenbar nicht so sehr auf die konsequente Anordnung alles Einzelnen im Ganzen an, sondern darauf, in den Status jener Seligkeit zu gelangen, die nicht für sich bleibt, sondern die auf alles andere zurückzustrahlen vermag.

 

Die intendierte Betrachtungs- und Leseperspektive

Das Zusammenwirken von bildlichen und textlichen Anteilen lässt deutlich erkennen, welche spezifische Betrachtungs- und Lektüreperspektive die Radfigur einzunehmen und zu verfolgen anreizen kann. Gott ist im Innersten lokalisiert, der Ausgangspunkt zur Annäherung an Gott sind die Bitten des Vaterunsers entlang der äußeren Speichenabschnitte. Aufgrund der Ausrichtung der Schrift, insbesondere der Majuskelumschriften der einzelnen Ringe, sehen wir die gleichermaßen von außen nach innen verlaufende wie auch kreisende Bewegung aus der Perspektive des im Innersten wohnenden Gottes. Das heißt, wir sehen gewissermaßen uns selbst mit den Augen Gottes auf diesen zubewegen. Und ebenso sehen wir von hier aus die Seligkeiten als letzte Stufe unseres Heilswegs die Zone Gottes überschreiten und jenseits der Radnabe nach außen hin ausstrahlen. Wenn wir tatsächlich jeweils alle Einzelelemente der einzelnen Septenare in ihrer Kreisabfolge lesen wollen, ist es allerdings kaum möglich, die Perspektive nicht zumindest partiell zu wechseln.

Auch wenn wir bisher keine konkreten Anhaltspunkte dafür haben, wie die Benediktinermönche, die mutmaßlich die ersten Adressaten unserer Radfigur waren, mit dieser umgingen: In der perzeptiven Aneignung der Figur selbst ist zu erkennen, dass diese geeignet ist, seinerzeit gemutmaßte Strukturen der Schöpfung und deren Heilspotential über eine körperlich-sinnliche, intellektuelle und spirituelle Weise erfahrbar zu machen. Offensichtlich ist es ein maßgeblich mit der Rota verbundenes Anliegen, eine auf den Schöpfergott (bzw. auf dessen Wohnsitz in unserem Inneren) ausgerichtete, meditative Grundhaltung und -perspektive zu eröffnen, diese einzunehmen und sich darin einzuüben – eine Haltung und Perspektive, die in diesem Fall in der angenommenen Haltung und Perspektive Gottes selbst verankert ist.
Ulrich Rehm, S. 167f.

 

 

Quellen

Vaterunserbitten

(Matthaeus 6,9-13)

 9 Sic ergo vos orabitis: Pater noster, qui es in cœlis: sanctificetur nomen tuum. (1)

10 Adveniat regnum tuum. (2) Fiat voluntas tua, sicut in cœlo, et in terra. (3)

11 Panem nostrum supersubstantialem da nobis hodie. (4)

12 Et dimitte nobis debita nostra, sicut et nos dimittimus debitoribus nostris. (5)

13 Et ne nos inducas in tentationem. (6) Sed libera nos a malo. (7) Amen.

 

Gaben des Heiligen Geistes

(Jesaja 11,2-3)

et requiescet super eum spiritus Domini spiritus sapientiae (1) et intellectus (2) spiritus consilii (3) et fortitudinis (4) spiritus scientiae (5) et pietatis (6) Et replebit eum spiritus timoris Domini: (7) non secundum visionem oculorum judicabit, neque secundum auditum aurium arguet:

 

Seligpreisungen der Bergpredigt

(Matthäus 5,1-12)

5 Videns autem Jesus turbas, ascendit in montem, et cum sedisset, accesserunt ad eum discipuli ejus,

2 et aperiens os suum docebat eos dicens:

3 Beati pauperes spiritu: quoniam ipsorum est regnum caelorum. (1)

4 Beati mites: quoniam ipsi possidebunt terram. (2)

5 Beati qui lugent: quoniam ipsi consolabuntur. (3)

6 Beati qui esuriunt et sitiunt justitiam: quoniam ipsi saturabuntur. (4)

7 Beati misericordes: quoniam ipsi misericordiam consequentur. (5)

8 Beati mundo corde: quoniam ipsi Deum videbunt. (6)

9 Beati pacifici: quoniam filii Dei vocabuntur. (7)

10 Beati qui persecutionem patiuntur propter justitiam: quoniam ipsorum est regnum caelorum.

11 Beati estis cum maledixerint vobis, et persecuti vos fuerint, et dixerint omne malum adversum vos mentientes, propter me: ( in Strahl 4)

12 gaudete, et exsultate, quoniam merces vestra copiosa est in caelis. Sic enim persecuti sunt prophetas, qui fuerunt ante vos. (in Strahl 7)

Biblia Sacra Vulgata

 

Heilsgeschichtlichen Ereignissen des Neuen Testaments (bona)

Die sieben über den Textabschnitten im Kreissegment C stehen einzelne Wörter identifiziert Ulrich Rehm als die septem bona, im Mathäuskommentar des Radbertus:

adventus iudicii – Ankunft zum Jüngsten Gericht

ascensio – Aufstieg in den Himmel

resurrectio – Auferstehung

descensus an inferos – Abstieg in die Hölle

passio – Passion

baptismus – Taufe

incarnatio –Inkarnation (Empfängnis)

Ulrich Rehm. S. 158

 

 

Literatur

Das Liesborner Evangeliar. Ein Buch für die Ewigkeit. Wadersloh 2023.

Ulrich Rehm: Die Radfigur im Liesborner Evangeliar. Ein Bild-Text-Gefüge des 12. Jahrhunderts als Kondensat benediktinischer Exegese-Tradition und als Medium spiritueller Dynamik. In: Julia von Ditfurth und Sebastian Steinbach (Hg.): Die Welt des Evangeliars – Liesborn und das Damenstift (9.-12. Jahrhundert). Münster 2024, S. 151-168.

Biblia sacra iuxta vulgatam versionem. Recensuit et brevi apparatu critico instruxit Robertus Weber. Praeparavit Roger Gryson. [Stuttgart, 1994] [et alii multi collaborabant]. Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1994. (Digitalisat – Internet Archive)

 

 

 

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