Die Schimmelreiter-Sage[1]

 

Theodor Storms Novelle „Der Schimmelreiter“ hat durch ihren hohen Bekanntheitsgrad das Bild der Marschlandschaft an der Nordseeküste nachhaltig geprägt; für viele Leser verkörpert Hauke Haien den Widerstand der Menschen an der Westküste Schleswig-Holsteins gegen die ständigen Angriffe der See. Das Bild des genialen Deichgrafen, der an seiner Mission scheitert, hat sich von seinem literarischen Vorbild längst gelöst und ist zur kollektiven Vorstellung einer Kulturgemeinschaft geworden, die in ihm eine regionale Sagengestalt erkennen will. Einige der in der Erzählung enthaltenen Motive gelten vielen Lesern als alte Volkssagen, durch die Theodor Storm zu seinem literarischen Meisterwerk erst angeregt wurde. Literaturhistoriker, Heimatforscher und Journalisten haben immer wieder nach solchen Quellen gesucht und sind auch mehrfach fündig geworden.

 

 

Die allgemeine Erwartung, dass eine Schimmelreiter-Sage zum Überlieferungsschatz volksläufigen Erzählguts der Herzogtümer Schleswig und Holstein gehört, wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrfach durch Sagenbücher bestätigt. Auch in einer überregionalen und in drei regionalen Sagensammlungen, die in den 1990er Jahren veröffentlicht wurden, sind Erzählungen von einem Schimmelreiter enthalten. 1993 nannte Gundula Hubrich-Messow einen ihrer Texte der Sammlung von „Sagen aus Schleswig-Holstein“ „Der Schimmelreiter in Eiderstedt“[2], 1994 druckte Jurjen van der Kooi einen längeren Text mit dem Titel „Der Schimmelreiter“ in seiner Sammlung „Friesische Sagen“ ab[3], und 1996 nahm Heinz Rölleke eine Sage gleichen Namens in „Das große deutsche Sagenbuch“ auf.[4] Zwei Jahre später übernahm van der Kooi die friesische Sage auch in seine „Sagen aus Nordfriesland“.[5]

Bei zwei dieser Sagen handelt es sich um kürzere Texte in der Tradition der Sammlungen des 19. Jahrhunderts (Hubrich-Messow und Rölleke). Beiden Versionen gemeinsam ist der Schauplatz: Ein Seedeich auf der Halbinsel Eiderstedt im Herzogtum Schleswig wird bei einer Sturmflut durchbrochen. Ein Deichgraf stürzt sich in den Durchstich, den er selber veranlasst hat, um größere Schäden zu verhindern. Bei dem anderen Text (van der Kooi 1994 und 1998) handelt es sich um einen längeren Erlebnisbericht mit einer kurzen Binnenerzählung, die denselben Sagenkern enthält.

Sämtliche der in diesen Texten enthaltenen Sagenmotive finden wir auch in Storms Novelle „Der Schimmelreiter“, die 1888 erstmals gedruckt wurde. Lediglich der Schauplatz und die Gründe für den Deichbruch sind andere. Während man die von Storm geschilderte Katastrophe an die Nordostecke des um das Jahr 1500 fertiggestellten Neuen Hattstedter Deiches nordwestlich von Husum verorten kann, spielen beide Fassungen der Schimmelreitersage südlich von Husum in der Landschaft Eiderstedt. Beide Versionen beschreiben die Zerstörung eines Deichs, der mutwillig durchstochen wird, um den Druck zu vermindern und so größeres Unheil zu vermeiden. Die kürzere der beiden Fassungen (vergl. T 4) berichtet von einem Seedeich in Eiderstedt; die längere (vergl. T 3) beschreibt dieselbe Situation am Flussdeich der südlich der Landschaft Eiderstedt in die Nordsee mündenden Eider.

Während in Storms Erzählung der Gevollmächtigte Ole Peters, der Gegenspieler des Deichgrafen Hauke Haien, den Durchstich veranlasst, ist es in beiden Sagenfassungen der Deichgraf selber, der auf diese Weise Entlastung schaffen will. Und anders als Hauke Haien, der sich aus Verzweiflung über sein Versagen und den Tod seiner Familie in den Bruch im alten Deich stürzt, begeht der andere Deichgraf Selbstmord, weil er sieht, dass sein eigener Durchstich erhebliche Schäden anrichtet.

Bei diesem ersten Befund stellen sich die Fragen, ob die beiden Sagenfassungen von Theodor Storms Deichnovelle abgeleitet wurden, ob es eine von Storm unabhängige Tradition einer Schimmelreiter-Sage in Nordfriesland gibt, auf die Storm bei der Niederschrift seiner Novelle möglicherweise selber zurückgegriffen hat, oder ob die Verfasser auf andere, bisher nicht ermittelte Quellen zurückgegriffen haben.[6]

Da mehrfach behauptet wurde, es habe in Nordfriesland eine von Storms Novelle unabhängige mündliche Tradition einer Schimmelreiter-Sage gegeben, die bis in die frühen 1880er Jahre zurückreicht, soll in diesem Beitrag der gesamte Schimmelreiter-Komplex noch einmal daraufhin untersucht werden, aus welchen Quellen die Schimmelreiter-Motive stammen und welche Abhängigkeiten der Texte untereinander nachgewiesen werden können.

 

In einem ersten Teil werden die Quellen untersucht, die Theodor Storm vor und während der Niederschrift seiner „Schimmelreiter“-Novelle benutzt hat. Der zweite Teil dokumentiert Entstehung und Überlieferung der beiden Schimmelreiter-Texte aus Eiderstedt.

 

 

I. Die Sagenmotive in Storms „Schimmelreiter“ und ihre Quellen

 

Im Jahre 1949 veröffentlichte der Bibliothekar Karl Hoppe einen kurzen Aufsatz in „Westermanns Monatsheften“, in dem er auf eine Quelle von Storms Meisternovelle „Der Schimmelreiter“ hinwies[7], die er in einer Art Readers-Digest des 19. Jahrhunderts gefunden hatte, die Erzählung „Der gespenstige Reiter“. Sie wurde erstmals 1838 in der Zeitschrift „Danziger Dampfboot“ veröffentlicht und noch im selben Jahr im 2. Band der in Hamburg verlegten „Lesefrüchte vom Felde der neuesten Literatur des In und Auslandes“ nachgedruckt, wo sie Theodor Storm gelesen zeitnahe gelesen hat.

 

  

 

Es dauerte allerdings noch einmal dreißig Jahre, bis Karl Ernst Laage 1979 eine neue Etappe der Erforschung von Storms Meisterwerk eröffnete. Bei seinen Recherchen für eine Separatausgabe der Novelle entdeckte er in der Reinschrift, die im Storm-Nachlass der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel aufbewahrt wird, eine längere Textpassage, die in der Buchausgabe nicht mehr enthalten ist.[8] Dies gab den Anstoß zu einem systematischen Quellenstudium und zu einer gründlichen Erforschung der erhaltenen Textzeugen. Die von der Storm-Gesellschaft angeregte und begleitete Edition wichtiger Briefwechsel Storms förderte eine Fülle von Zeugnissen hervor, aus denen der Arbeitsprozess am „Schimmelreiter“ zwischen 1885 und 1888, dem Todesjahr des Dichters, genau rekonstruiert werden konnte; außerdem wurden neben der Deichreiter-Sage mehr als vierzig weitere Quellen ermittelt, die Storm während seiner Niederschrift verwendet hat.[9]

In dem „Reiseabentheuer“, das im April 1838 im „Danziger Dampfboot“ unter dem Titel: „Der gespenstige Reiter“ erschien, wird von einem Kaufmann berichtet, dem auf dem Wege von Danzig nach Marienburg an der Güttlander Weichselfähre ein Reiter auf weißem Pferd erscheint. Die Männer, die hier bei Eisgang Wache halten, erzählen ihm von einem Deichgeschworenen, der sich mit seinem Pferd in den Deichbruch gestürzt habe, nachdem er die Schuld für den schlecht gewarteten Deich auf sich genommen hatte. Ross und Reiter erscheinen bis heute als gespenstiges Warnzeichen vor einem drohenden Deichbruch.

Zu dieser Zeit studierte Theodor Storm an der Berliner Universität und las die Erzählung vermutlich bei seiner Reise nach Hamburg, wo er sich bei Verwandten aufhielt, als Nachdruck in den „Lesefrüchte(n) vom Felde der neuesten Literatur des In- und Auslandes“. Zum Wintersemester 1839/40 kehrte er wieder an die Kieler Universität zurück, um dort sein Studium der Rechte fortzusetzen. Mit seinen Kommilitonen Theodor und Tycho Mommsen trat er in einen Dichterwettbewerb und begann das Projekt der Sammlung von Sagen, Märchen und Liedern aus den Herzogtümern Schleswig und Holstein.

Es dauerte fast fünfzig Jahre, bis der mittlerweile erfolgreiche Autor die Danziger Gespenster-Erscheinung als zentrales Motiv im inneren Erzählrahmen seiner „Schimmelreiter“-Novelle wieder aufgriff. Aber anders als in der Geschichte aus Preußen berichten die Erzähler in Storms Novelle nun vom Aufstieg und Scheitern des nordfriesischen Deichgrafen Hauke Haien, der bei einer Sturmflut an der Nordseeküste in der Hattstedtermarsch ums Leben gekommen ist.

Für den Anfang seiner „Schimmelreiter“-Novelle hat Storm zu Beginn seiner Niederschrift eine Geschichte erfunden, die sich ganz realistisch gibt. Der namenlose Erzähler des äußeren Rahmens berichtet von einem Jugenderlebnis mit deutlich autobiographischen Bezügen: „Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor reichlich einem halben Jahrhundert im Hause meiner Urgroßmutter, der alten Frau Senator Feddersen, kund geworden, […].“[10]

 

Generationen von Storm-Forschern haben aus dieser Einleitung geschlossen, dass der junge Storm den Stoff für seine bedeutende Altersnovelle tatsächlich im Hause seiner Urgroßmutter Feddersen kennengelernt und ein Leben lang in seinem Bewusstsein aufbewahrt habe. Denn in den nächsten Jahren erwähnt er immer wieder eine „Deichsage“, an die er sich nach vier Jahrzehnten genau erinnern kann, allerdings weiß er nicht mehr, wo er diesen Stoff gelesen hat. Storm muss in den 1880er Jahren eine sehr intensive Erinnerungsarbeit geleistet haben, denn er hat, wie er selbst berichtet, das Heft mit der Gespenstergeschichte aus Danzig nie wieder zu Gesicht bekommen.

Er glaubte eine Zeitlang, die Erzählung im „Husumer Wochenblatt“ gelesen zu haben. Als er mit seinen Freunden während der Kieler Studentenzeit in den Jahren um 1843 Sagen und anderes Erzählgut aus Schleswig-Holstein sammelte, werteten die jungen Forscher landesgeschichtliche Darstellungen, regionale Chroniken und Zeitschriften aus; Storm, der sein Material vor allem in Nordfriesland und Nord-Dithmarschen zusammentrug, las im „Husumer Wochenblatt“ eine Reihe von Sagen, unter denen sich aber keine von Deichgrafen oder Schimmelreitern befanden.[11]

Anfang 1843 wurden die einzelnen Sammlungsteile des Freundeskreises von Theodor Mommsen in Kiel redaktionell zusammengestellt und schließlich dem Philologen Karl Müllenhoff zur Veröffentlichung übergeben, der sie 1845 unter dem Titel „Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg“ herausgab.

 

   

 

In der Müllenhoff’schen Sagensammlung findet sich ein Hinweis auf den Schimmelreiter-Stoff; in der Anmerkung zu einer Sylter Sage, die von einem nachlässigen Strandvogt berichtet, der zur Strafe nach seinem Tode am Strande umherirrt, heißt es:

 

In Lauenburg: Ein Deichgraf reitet den Deich an der Elbe entlang um nachzusehen. Man zwingt ihn in die Fluthen hinein zu reiten. Seitdem sieht man ihn allnächtlich auf seinem weißen Pferde.[12]

 

Allerdings taucht dieses Wiedergänger-Motiv in keinem weiteren Text der Sammlung auf, auch nicht in den Texten, die in den Jahren 1844 bis 1850 im „Volksbuch für die Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg“ veröffentlicht wurden und von denen Storm eine ganze Reihe beigetragen hat.

Das Schimmelreiter-Motiv muss aber mächtig in Storms Erinnerung gespukt haben, denn am 13. Februar 1843 schrieb er an Theodor Mommsen: „Der Schimmelreiter, so sehr er auch als Deichsage seinem ganzen Charakter nach hier her paßt, gehört leider nicht unserm Vaterlande; auch habe ich das Wochenblatt, worin er abgedruckt war, noch nicht gefunden.“[13]

In einem regionalen Wochenblatt der Herzogtümer wurde eine solche Erzählung in der Tat nicht veröffentlicht. Auch im umfangreichen Manuskript „Neues Gespensterbuch“, einer Sammlung von Gespenstergeschichten, die Storm zur selben Zeit zusammenstellte, damals aber nicht zum Druck brachte, ist keine entsprechende Erzählung enthalten.

Einige Motive aus dem gesammelten Material verwendete der junge Schriftsteller für seine frühe Erzählung „Geschichten aus der Tonne“ (1846). Zwei andere Texte aus dem Sagenbuch, nämlich „Das vergrabene Kind“ (Müllenhoff, Nr. 331) und „Die Meerweiber“ (Müllenhoff, Nr. 453) sollte Storm vierzig Jahre später bei der Niederschrift seines „Schimmelreiters“ wieder aufgreifen.

Der Reigen der Gespenstergeschichten in Storms Novelle wird vom Rahmenerzähler durch eine Wiedergängererscheinung eröffnet, die in der Tradition der vielfach belegten Schimmelreiter-Sagen steht, nun aber mit Sturmflut und Deichbruch in Verbindung gebracht wird. Im Binnenteil bietet der Schulmeister dem Leser zwei Versionen vom Leben und Wirken Hauke Haiens an. Seine eigene Auffassung zeigt einen nüchtern kalkulierenden, energischen und herrischen Deichgrafen, dem die abergläubische Landbevölkerung einen Bund mit dem Teufel nur andichtet. Aus dieser anderen Perspektive wird Hauke Haien als Teufelsbündner angesehen, sein Schimmel erscheint als Teufelspferd und sein Untergang wird als Höllenfahrt wahrgenommen.

 

–       Der Schimmelreiter wird bei Sturmfluten nachts auf dem Deich gesehen und stürzt sich, wenn ein Bruch bevorsteht, mit seiner Mähre in eine Wehle.

–       Gebleichte Pferdeknochen stehen an bestimmten Tagen auf und gehen umher.

–       Der Teufel verkauft  - als Rosstäuscher – ein abgetriebenes Pferd für wenig Geld. Im Stall wohlgepflegt entpuppt er sich als feuriger Schimmel, der nur seinem Besitzer als Reitpferd dient.

–       Der Schimmelreiter verzweifelt beim Deichbruch und bietet sich als Opfer an, damit die anderen Marschbewohner verschont bleiben.

–       Ein geflügeltes Wesen reißt ihn vom Pferd und nimmt ihn mit in die Hölle.[14]

 

Storm konnte sich während seines Schreibprozesses auch an die Zeitschrift erinnern, in der er um 1838 die Gespenstergeschichte von der Weichsel gelesen hatte, und notierte in seiner Novelle jenen Hinweis, den Karl Hoppe später erfolgreich verwertet hat.

In den 1860er und 70er Jahren, in denen sich Storm immer wieder mit der Geschichte seiner Heimat auseinandersetzte, waren es andere Landstriche, die in seinen Novellen beschrieben wurden, so 1872 die Heidelandschaft südlich von Husum in „Draußen im Heidedorf“ sowie das Wattenmeer und die Welt der Halligen in „Eine Halligfahrt“. An das Thema der Landgewinnung durch Deichbau und Entwässerungsanlagen wagte Storm sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht heran, obwohl es in seiner Erinnerung weiter schlummerte.

Noch um 1870 vermutete er, diesen Deichreiter-Stoff von Lena Wies gehört zu haben, von jener Bäckerstochter, die den Knaben einst nach Storms eigenem Bekunden das phantasievolle Erzählen gelehrt hatte. Als er dieser einfachen Frau ein Gedenkblatt widmete, schrieb er:

 

Und dann – ja, dann erzählte Lena Wies; [...] und mochte es nun die Sage von dem gespenstischen Schimmelreiter sein, der bei Sturmfluten Nachts auf den Deichen gesehen wird und, wenn ein Unglück bevorsteht, mit seiner Mähre sich in den Bruch hinabstürzt, oder mochte es ein eignes Erlebnis oder eine aus dem Wochenblatt oder sonstwie aufgelesene Geschichte sein [...].[15]

 

Was Storm zu diesem Zeitpunkt nicht klar gewesen zu sein scheint, ist die Tatsache, dass es sich wieder um die Erinnerung an jene Gespenstergeschichte von der Weichsel handelte, die der Dichter vor mehr als dreißig Jahren in Pappes „Hamburger Lesefrüchte(n)“ gelesen hatte.

Die große Aufmerksamkeit, die Storm und seine Studiengenossen volksläufigen Erzählungen und Liedern widmeten, kam nicht von ungefähr. Im 19. Jahrhundert versteht man unter Sage eine kurze Erzählung mit Wirklichkeitsanspruch, in der ein altes Wissensgut berichtet wird und die im Unterschied zum Märchen kein eigentliches Erzählkunstwerk sein will. Die Brüder Grimm und ihre Nachfolger im 19. Jahrhundert stellten Märchen, Lieder und Sagen aus dem deutschen Sprachraum zusammen und schufen damit kanonisierte Buchausgaben, die bis heute unsere Vorstellungen von diesen literarischen Gattungen prägen. Nach einer weit verbreiteten Vorstellung handelt es sich bei solchen Texten um Stoffe, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts mündlich überliefert wurden. Sagenerzähler und Märchenfrauen gehören zu einer romantisierenden Verklärung deutscher Regionalgeschichte des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Die Wirklichkeit sah viel prosaischer aus. Ein Großteil der Texte, die unter dem Etikett „Volkssagen“ vermarktet wurden, stammt aus Chroniken und anderen Druckwerken; nur ein geringerer Teil wurde nach mündlichen Erzählungen aufgeschrieben.

Ob es sich bei den Quellen um literarisch gestaltete oder um bloß berichtende historische Darstellungen handelt, bedeutet den Sammlern nicht viel, denn ihnen kam es nur auf den Inhalt, auf die Sagenstoffe an. Die sagenhaften Themen, die sich ihnen je nach Quelle in verschiedener Gestalt darboten, wurden von ihnen vereinheitlicht und nach Möglichkeit in einer „schlichten“ Form aufgezeichnet. Dabei konnten mehrere Berichte eines Sagenmotivs zu einer Erzählnummer zusammengefügt werden, wobei die sprachliche Fassung eine eigene Leistung des Sammlers darstellt. Noch wichtiger war die in vielen Fällen erstmalige Herstellung eines Sagentextes, indem der Sammler aus einer Erzählung historischen oder kulturgeschichtlichen Inhalts das um ein Motiv herum gerankte Erzählgut herausfilterte und ihm eine stimmige sprachliche Form gab.

Vor allem dies mag Theodor Storm gereizt haben, sich an der Herstellung von regionalen Sagen zu beteiligen, denn auf diesem Wege konnte er einen Beitrag zur Verbesserung der allgemeinen Bildung leisten. Dies war in den 1840er Jahren ein wichtiger Antrieb der jungen Generation in den Herzogtümern, die daran mitarbeitete, den Menschen ihrer Region ein in der Kenntnis ihrer eigenen Geschichte wurzelndes nationales Selbstbewusstsein zu vermitteln. Und die spätere Verbreitung von mancher dieser Sagen bestätigt diese Absicht; wir verdanken Storms Aktivitäten u.a. die Sage vom roten Haubarg, von Martje Flors und die heute noch über die Landesgrenzen Schleswig-Holsteins hinaus bekannte Sage vom Untergange Rungholts.[16]

Die von den Brüdern Grimm herausgegebene Sagensammlung fand vielfältige Nachahmung; so wie der Freundeskreis um Mommsen und Storm sammelte man auch in anderen Ländern des deutschen Kulturkreises „vaterländische“ Märchen und Sagen und verstand unter „vaterländisch“ zunächst die sprachlich-kulturelle Gemeinsamkeit der Menschen eines einheitlichen Siedlungsraumes; erst im Verlauf des Jahrhunderts kam ein politischer Aspekt im Sinne eines Willens zur Bildung einer eigenständigen staatlichen Gemeinschaft hinzu. Den Nachfolgern der Brüder Grimm schienen die Sagen Reste sehr alter germanischer Mythen zu tradieren, während wir heute wissen, dass die meisten Sagen weit jünger sind. Man sammelte sowohl mündlich als auch schriftlich überlieferte Texte, die von den Herausgebern der regionalen Sagenbücher in eine möglichst einheitliche Textform umgeschrieben wurden.

Hermann Bausinger beschreibt diesen Prozess folgendermaßen:

 

Mündlichkeit der Überlieferung bedeutet aber auch grundsätzlich Variabilität. Sie ist am größten in den Bereichen und bei den Elementen, die für die Sinn- und Formstruktur keine zentrale Bedeutung haben [...].Die mündliche Überlieferung schafft also eigene Gesetzlichkeiten. Auf der anderen Seite treten die in der oralen Tradition bevorzugten Formen auch verschriftlicht in Erscheinung. Nun bedeutet die schriftliche Fixierung eines zunächst mündlich vorgetragenen Textes nicht nur, daß dieser – in einem äußerlichen Sinne – in einen anderen Aggregatzustand versetzt wird, sondern die Verschriftlichung führt in einen ganz anderen Bedingungsrahmen. Die vielen Buch-Sammlungen des 19. Jahrhunderts, zunächst überwiegend gedacht als Dokumentationen mündlicher Tradition, schufen sich einen eigenen literarischen Markt, auf dem bald auch bloße Schreibtischprodukte angeboten wurden; die Zahl der Feldforscher blieb verschwindend klein [...], die der Kompilatoren und Abschreiber war groß. Und sie gaben sich in vielen Fällen nicht mit den schon vorhandenen, noch eng an die mündliche Überlieferung gebundenen Texten zufrieden, sondern suchten diese auszuschmücken und zu verschönern. Dies gilt schon für die Grimmsche Märchensammlung; noch deutlicher ist es bei vielen Sagensammlungen. Den Auftakt machen auch hier die Brüder Grimm; ihre Deutschen Sagen (1816, 1818) bleiben noch relativ dicht am Stil ihrer Vorlagen. Die vielen Nachfolger, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in allen Landschaften finden, tauchen dagegen die kargen - auch wortkargen - Geschichten oft in eine romantische Stimmung und walzen sie aus zu geschwätzigen Historien.[17]

 

Auf diese Weise ist auch die Sage vom Schimmelreiter an der Weichsel entstanden und mannigfach literarisiert worden. Das in ihr verarbeitete zentrale Motiv hat eine lange Tradition. Das Pferd[18], das in der nordischen Überlieferung Wodan-Odin reitet, ist der achtfüßige Schimmel. Bereits Herodot berichtet von den Persern, dass ihnen weiße Pferde heilig waren. Auch das griechische und germanische Altertum kennt die natursymbolische Bedeutung des Schimmels, der für die am Himmel wandelnde Sonne und damit für das Licht oder das Feuer überhaupt steht. Später wurde das Ross zum Vegetationsdämon; Odins Schimmel und der Schimmelreiter verband sich in Deutschland damit, so dass man zur Zeit der Vegetationsriten einen Schimmelreiter bildete und das Beschlagen des Schimmels zu einem Teile solchen Vegetationsritus wurde.

Mit dem Absinken der Wodansmythe zu den zahlreichen Gestalten der Volkssage findet sich der Schimmel als Begleittier der verschiedenartigen Erscheinungsformen des wilden Jägers wieder. Schließlich ist es der Teufel; aber auch der Wassermann verwandelt sich in einen Schimmel. So erscheinen in verschiedenen Gegenden die Quellgeister als Schimmelreiter. Der gespenstische Schimmel tritt auch allein auf; an ihm haftet das Wesen Wodans weiter als Sturmdämon. In zahlreichen Volkserzählungen begegnet der Schimmel als spuk- und gespensterhaftes Tier. Auch Varianten wie ein Schimmelreiter ohne Kopf und der dreibeinige Schimmel kommen vor.

Sagen von Schimmelreitern sind z.B. in einer Sammlung von niedersächsischen Sagen und Märchen enthalten, die 1855 in Göttingen erschien.[19] Storm hatte sich diesen Band zusammen mit fünf anderen Büchern Anfang Juli 1886, als er seine „Schimmelreiter“-Novelle konzipierte, aus Göttingen schicken lassen.[20] Die Schimmelreiter-Sagen, die dort unter Nr. 217 abgedruckt sind, schildern Begegnungen mit gespenstigen Reitern, die als Wiedergänger erscheinen. Nur der erste der sechs Texte enthält Motive, die wir auch in Storms Novelle wiederfinden.

 

Ein Reiter kam in der Nacht von Northeim und wollte noch nach Salzderhelden. Zwischen 12 und 1 Uhr befand er sich auf der Strecke zwischen Hohnstedt und Salzderhelden. Eben war er um den Ramberg gebogen, als er in der Ferne einen weißen Punct erblickte; wie er näher kam, sah er einen weißen Schimmel, worauf ein Reiter ohne Kopf saß. Indem er an dem Schimmel vorbeiritt, sprach der Mann ohne Kopf zu ihm die Worte: „jeder, der einen erschlagen hat und sich verspätend zu dieser Stunde hier vorbeikommt, der mag nur darauf rechnen, daß ich ihn hier nicht vorbei lasse.“ – Er deutete damit an, daß er einem solchen den Hals umdrehen werde. – Dann verfolgte der Mann ohne Kopf auf seinem weißen Schimmel den Reiter noch bis zu den Vogelbecker Pappeln, wo er verschwand.

 

Allerdings findet sich in den vielen regionalen oder überregionalen Sagensammlungen des 19. Jahrhunderts keine Wiedergänger-Sage, in der die zentralen Motive von Storms Novelle enthalten wären. Eine Ausnahme bildet das „Danziger Sagenbuch“ von 1883, in dem ein Text mit dem Titel „Der Deichgeschworne zu Güttland“ (vergl. T 1) enthalten ist. Es handelt sich dabei um die Quelle jenes "Reiseabenteuers", die ein anonymer Verfasser zur Erzählung vom "gespenstigen Reiter" umgearbeitet und im "Danziger Dampfboot" veröffentlicht hat.

 

 

Ein Reisender begegnet in einer Winternacht, bei Weichselhochwasser und Eisgang auf dem Weichseldeich reitend, ein Gespenst auf einem Schimmel. Er flüchtet bei Güttland in eine Wachtbude, wo Männer auf den Katastropheneinsatz warten, das heißt, den Deichbruch durch Eisstau. Sie erzählen ihm, dass der Schimmelreiter ein Deichgeschworener sei, ein tüchtiger Mann, der sich bei einem Deichbruch aus Gram in die Bruchstelle stürzte. Seitdem erscheint er, sobald die Gefahr eines Deichbruchs besteht.

Die dortige Kulturlandschaft heißt „Werder“ und besteht aus einem fruchtbaren Schwemmland, das durch Schlickablagerungen der Weichsel und ihrer Nebenflüsse entstanden ist und seit dem 13. Jahrhundert vom deutschen Ritterorden eingedeicht und kultiviert wurde. Der Fluss wurde reguliert und es mussten Entwässerungsanlagen mit windbetriebenen Schöpfanlagen eingerichtet werden. Im 16. Jahrhundert kamen neue Siedler, darunter auch viele Holländer; die Deiche wurden verbessert, um das Acker- und Wiesenland vor dem jährlich wiederkehrenden Weichselhochwasser zu schützen.

Die Bewohner dieses Landes waren mit den jedes Frühjahr drohenden Deichbruchkatastrophen vertraut, das Dorf Güttland als Gefahrenpunkt erster Ordnung bekannt. Die ausführlichen Chroniken in der Weichselmarsch des Danziger Werders dokumentieren Deichbruchkatastrophen bis zurück ins 13. Jahrhundert, allerdings wird kein so dramatisches Ereignis wie der Selbstmord eines Deichgeschworenen bei dem Bruch seines Deiches erwähnt.

Es gibt aber eine zweite Sage, die ein Motiv enthält, das auch wieder in der Sage vom Deigeschwornen auftauch. Sie wurde 1837 in einer Sammlung von Sagen aus Preußen abgedruckt[21] und geht auf eine Landesbeschreibung des Gebiets der Weichselniederung bei Danzig, Elbing und Marienwerder aus dem Jahre 1722 zurück.[22] Der Autor dieser Werderbeschreibung ist Abraham Hartwich (1663-1721), der ein belesener und vielseitig informierter Dorfpfarrer war. Seine Beschreibung zeichnet ein farbiges Bild der durch Landwirtschaft geprägten Lebensweise der Menschen, ihrer sozialen Verflechtungen sowie ihres Schicksals in Kriegswirren und bei Naturkatastrophen.

 

 

Die Sage hat bei von Temme und Tettau folgende Fassung:

 

Der Dammbruch bei Sommerau.

Im Jahre 1463 am Diensttage vor Jubilate trieb ein heftiger Sturm das Wasser im Nogatstrome so hoch, daß es eine Otternhöhle in der Nähe von Sommerau erreichte, und dadurch einen solchen Bruch im Damme machte, daß fast alle Dörfer des Fischauschen Werders von den Fluthen bedeckt, die Wohnungen fortgerissen, Menschen und Vieh ersäuft und die Bewohner in wenigen Augenblicken um all ihre Habe gebracht wurden. Als sich nun das Wasser endlich wieder in das Haff und den Drausensee verlaufen, versuchte man es, die entstandene Oeffnung zuzudämmen. Aber alle Anstrengung war umsonst; denn was des Tages über gemacht worden, fand man am nächsten Morgen jedesmal wieder versunken. Als nun die Bauern noch eine Berathung hielten, aber keiner mehr aus noch ein wußte, da trat plötzlich ein Unbekannter in die Versammlung und eröffnete derselben, daß es erst dann gelingen würde, das Loch wieder zu verstopfen, wenn zuvörderst ein lebender Mensch in dasselbe hineingestürzt wäre. Die Bauern folgten diesem Rathe und machten einen Bettler berauscht, der dann, als er seiner Sinne nicht mehr mächtig war, an das Loch geführt, in den Bruch hineingestürzt und sofort mit Erde beschüttet wurde. Und siehe! von Stund‘ an gelang es mit leichter Mühe, die Oeffnung im Damme zu verstopfen.

 

An diesem Beispiel kann man sehr genau sehen, wie die Buch-Sagen im 19. Jahrhundert entstanden sind. Denn neben der Einleitung bieten die Sammler ihren Lesern einen ausführlich erzählten Sagenkern, der sich in der Vorlage aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts weniger poetisch liest. In der Quelle heißt es schlicht und einfach: „Es ist eine gemeine Rede im Werder, daß die Bauren einen Bettler sollen besäuft, an das Loch geführt, und in den Bruch gestürzt haben, davon der Bruch hernach hat können gefüllet und befestiget werden. Und das hätten sie auf Anrathen eines frembden Mannes gethan, der sich einmahl bey ihren Rahtschlägen soll eingefunden haben“.

 

Ob der anonyme Verfasser des „Reiseabentheuers“ im „Danziger Dampfboot“ im Jahre 1838 (vergl. T 2) auch diese Sage kannte, lässt sich aus seinem Text nicht erschließen. Aber er hat die Sage „Der Deichgeschworne zu Güttland“ verwendet, die Carl Greif in seiner unterhaltsamen Sammlung unter dem Titel „Der Erzähler oder Das Buch für lange Winterabende. Eine Gallerie der interessantesten Erzählungen, der merkwürdigsten historischen Begebenheiten, Empörungen, Verschwörungen, Revolutionen und Kriege aller Zeiten, charakteristische Züge aus dem Leben berühmter Zeitgenossen, vorzüglicher Anekdoten, Witzworte und Epigramme“ im Jahre 1838 herausgab. Und der unbekannte Autor für die Sammlung von Carl Greif hat die Geschichte vom Deichbruch bei Sommerau gekannt, denn er übernimmt das Bild von der „Otternhöhle“ im Deich, durch die sich das Wasser seinen Weg sucht, wenn er in seiner Version der Sage schreibt: „Durch eine kleine Oeffnung im Damme, wozu oft schon ein Otternloch Veranlassung gegeben hat, schuf sich die ungeheure Wassermasse einen Ausweg in die breite Niederung, um durch Ueberfluthung schreckliche Verwüstungen in den gesegneten Ländern anzurichten.“ (T 1)

Vergleicht man diese Sage mit der Erzählung, die im selben Jahr 1838 im „Danziger Dampfboot“ abgedruckt wurde, so erkennt man, das der anonyme Erzähler „……..n“ den Sagenkern mit allen Motiven in eine Gespenstergeschichte eingebaut hat. Er erweitert den Text durch die Hinzufügung einer Rahmenhandlung fast auf das Dreifache, wobei er den Sagenkern noch einmal um fast 40% reduziert, so dass die eigentliche Sage bloß noch ein Fünftel der Erzählung ausmacht (vergl. die Texte T 1und T 2).

In dieser Fassung hat Theodor Storm die Sage dann im Wortlaut fast unverändert in „Pappes Hambuger Lesefrüchte(n)“ gelesen.

 

Im Jahrgang 1838 des „Danziger Dampfbootes“ sind mehrere Berichte abgedruckt, die belegen, dass die Ereignisse, von denen im „Gespenstigen Reiter“ erzählt wird, auf damals aktuelle Vorkommnisse zurückgeführt werden können.[23]

 

Dirschau, den 29. März 1838.

Seit dem Aufbruche des Eises und dem dadurch verursachten hohen Wasserstande von 23 Fuß 10 Zoll ist das Wasser nur 20 Zoll gefallen und steht gegenwärtig auf 22 Fuß 2 Zoll still. Es fließt hier fortwährend viel altes Eis und, in Folge des wieder eingetretenen Frostes, auch viel neues Eis vorbei. Seit heute Mittag ist es möglich geworden, die Überfahrt mit den Spitzprahmen wieder in Gang zu bringen und auf diese Weise die Passage für alles Fuhrwerk sicher wieder herzustellen, obgleich der stete Eisgang, der hoch angeschwollene Strom und dessen außerordentliche Breite das Uebersetzen sehr beschwerlich machen.

Schaluppe zum Dampfboot Nr. 39 am 31. März 1838.

 

Culm, den 31. März 1838.

Der Eisgang ist für dies Mal glücklich vorübergegangen, obgleich das schnelle Wachsen des Wassers und vorzüglich eine in der Weichsel bei Schwetz gebildete Eisstopfung, große Besorgniß erregte, indem diese, wenn sie sich auf ein Mal losgerissen hätte, für die Culmer Niederungsdämme um so mehr gefährlich werden konnte, als der Wind sich nach Norden drehte, der alle Eismassen auf die diesseitigen Ufer getrieben hätte. – Indessen löste sich die Stopfung und die Eismasse trieb, ohne unsere Ufer zu berühren, fort. Dagegen drohte eine große Gefahr dem sogenannten Predigerdamme, in dem Dorfe Schöneich. Ein großer Theil des Dammes war, durch starken Wellenschlag und das Vorbeistreichen der sehr dicken Eisschollen, schon weggerissen, und da der Strom sich gerade auf die gedachte Deichstelle geworfen hatte, so wäre ein Durchbruch des Dammes unvermeidlich gewesen, wenn nicht die umsichtige Thätigkeit und Besonnenheit des Deichgeschwornen Horst, unterstützt durch den guten Willen und die äußerste Anstrengung der Deich-Interessenten, dem Unglück vorgebeugt hätten. Es wurden sofort eine Anzahl starker Baumstämme aus dem nah belegenen Forste herbeigeschafft, vor die schadhafte Stelle mit unsäglicher Mühe eingerammt und der Zwischenraum mit Dünger und Erde ausgefüllt, dem weiteren Abrisse aber durch Vorlegung von Faschinen Einhalt gethan. Auf der Dammkrone hatten sich ungeheure Eismassen aufgethürmt, die, um die Arbeit an dem Damme zu fördern, erst zerschlagen werden mußten. Hundert und vier und zwanzig Mann waren bei dieser Arbeit 24 Stunden lang unausgesetzt beschäftigt, und der Deichgeschworne Horst, obgleich er schon in drei Nächten nicht geschlafen hatte, dabei immer thätig und mit Rath und That bei der Hand, bis es endlich gelang, den ferneren Andrang des Eises zu hemmen und die Gefahr von dem Damme abzuwenden. […]. Denn das Unglück wäre grenzenlos gewesen, wenn gerade an der bemerkten Stelle der Damm durchgebrochen wäre, weil nicht nur ein bedeutender Theil der Niederungs-Bewohner, durch Versandung ihrer Ländereien, den größten Schaden gelitten, sondern auch, durch den Wegriß der Gebäude, Obdach und Vieh verloren hätte.

Schaluppe zum Dampfboot Nr. 43 am 10. April 1838.

 

Diese Berichte zeigen, wie viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Landstrichen, des Weichsel-Nogat-Deltas und der Marschen in Nordfriesland und auf Eiderstedt, bestehen. Auch wurde der Deichschutz im Gefahrenfall in beiden Regionen ähnlich organisiert.

In der Sage vom Deichbruch bei Sommerau taucht das verbreitet Motiv des Deichopfers auf, das Theodor Storm in seiner "Schimmelreiter"-Novelle ebenfalls verwendet hat. Dabei schöpfte er allerdings aus einer anderen Quelle, nämlich aus der schleswig-holsteinischen Sagensammlung von Karl Müllenhoff (Nr. 331: "Das vergrabene Kind").

Inwieweit die in der Erzählung vom gespenstigen Reiter berichteten Einzelheiten auf historische Begebenheiten zurückgeführt werden können, ist ebenfalls untersucht worden.[24] Als der Journalist Harald Steinert in den 1980er Jahren der Herkunft des „Schimmelreiter“-Mythos von der unteren Weichsel nachging und darüber mehrfach in den Feuilletons regionaler und überregionaler Zeitungen berichtete, konnte er sogar eine historistische Persönlichkeit als Vorbild für die Sagengestalt des Schimmelreiters an der Weichsel namhaft machen:

 

Doch gibt es eine andere Güttländer Tradition, die die Entstehung der Sage erklären dürfte. Zur Zeit der Publikation durch einen Anonymus lebte in dem reichen Marschendorf ein Deichgeschworener, dessen Persönlichkeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Vorbild war: Andreas Wannow, Bauer (und später preußischer Landtagsabgeordneter), geboren 1783, gestorben 1852. In der in einem öffentlichen Archiv deponierten Familienchronik wird über ihn - worauf ein Nachfahre hinweist - berichtet, daß er in seinem Dorf als „der Schimmelreiter“ bekannt war. Er ritt auf einem Schimmel, entweder an der Spitze der Viehherden, wenn er sie zur Weide auf die Marschländereien, am Strom und Deich brachte, oder beim Durchqueren des Flusses, wenn der Fährmann säumte - und er flüchtete auf diesem Schimmel auch einmal nach einem Dammbruch in das Dorf.[25]

 

Nach dem heutigen Stand der Kenntnisse ist es sicher, dass Theodor Storm bei der Niederschrift seiner „Schimmelreiter“-Novelle die Geschichte vom gespenstigen Reiter aus Danzig in der Fassung gelesen hatte, die zunächst im „Danziger Dampfboot“ und kurze Zeit später in Pappes „Lesefrüchte(n)“ im Druck erschienen war. Ob er auch die direkte Quelle dieser Gespenstergeschichte kannte, die Sage vom „Deichgeschwornen zu Güttland“ (vergl. T 1), ist nach Überprüfung der mir bekannten Quellen und Dokumente eher unwahrscheinlich.[26] Sicher ist aber, dass Storm auf keine Sagentradition in Nordfriesland, Eiderstedt oder Dithmarschen zurückgreifen konnte, da an der gesamten deutschen Nordseeküste nie eine volksläufige „Schimmelreiter“-Sage existiert hat.

 

Vergleich der Motive in den „Schimmelreiter“-Texten

 

 

Titel

T1

Der Deichgeschworne zu Güttland

T2

Der gespenstige Reiter

 

Der Schimmelreiter

T3

Der Schimmelreiter

T4

Der Schimmelreiter

T5

Der Schimmelreiter

T6

Der Schimmelereiter in Eiderstedt

Verfasser/ Hg./ Zeitschrift

Greif 1838

Wiederabdruck: Brandstädter 1883

Danziger Dampfboot 1838

Wiederabdruck: Pappes Lesefrüchte 1838

Th. Storm 1888

H. Momsen 1890

Wiederabdruck: van der Kooi 1994/1998

J. Jasper 1910

H. Lübbing 1928

Wiederabdruck: Rölleke 1996

R. Muuß 1933

Wiederabdruck: Hubrich-Messow 1993

Ort

Flussdeich an der Weichsel bei Danzig

Flussdeich an der Weichsel bei Danzig

Seedeich vor der Hattstedter Marsch

Flussdeich an der Eider

Seedeich in Eiderstedt

Seedeich in Eiderstedt

Seedeich in Eiderstedt

Anlass

Deichbruch durch Eisstau und Wasserdruck

Deichbruch durch Eisstau und Wasserdruck

Deichbruch durch Sturmflut

Sturm und Eisgang auf der Eider

Sturm und Eis auf der Nordsee

Sturm und Eis auf der Nordsee

Sturm und Eis auf der Nordsee

Rahmen

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Reiter auf Deich hört und sieht einen gespenstigen Reiter auf weißem Pferd

 

 

 

 

 

(Erzählung eines Reisenden)

Reiter auf Deich sieht einen gespenstigen Reiter auf weißem Pferd, der in einer Wehle verschwindet

 

 

 

(Erzählung eines Reisenden)

Reiter auf Deich sieht ein altes Fischerweib, das ein Unglück prophezeit, weil sie einen gespenstigen Deichgrafen auf einem Schimmel durch einen alten Bruch reiten sieht

(Erzählung eines jungen Mannes)

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historische Ereignisse

gewissenhafter Deichgeschworner erlebt einen Deichbruch

kleine Öffnung im Deich (Otternloch)

 

 

 

 

Überschwemmung und Zerstörung von Bauernland

unberechtigte Selbstanklage wegen Unachtsamkeit

 

 

Selbstmord aus Verzweiflung

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gewissenhafter Deichgeschworner erlebt einen Deichbruch

 

 

 

 

 

 

Überschwemmung und Zerstörung von Bauernland

Selbstanklage wegen Unachtsamkeit

 

 

Selbstmord aus Verzweiflung

(Erzählung eines alten Mannes)

gewissenhafter Deichgraf erlebt einen Deichbruch an einer Stelle, wo der neue auf den alten Deich stößt

Tod von Frau und Kind

 

 

 

Überschwemmung und Zerstörung von Bauernland

Selbstanklage wegen Unachtsamkeit

 

Selbstmord aus Verzweiflung und als Sühneopfer

(Erzählung eines Schulmeisters)

energischer Deichgraf erlebt im Jan. 1718 eine Eisflut an der Eider.

Um den Druck zu vermindern lässt er den Deich gegen den Willen seiner Leute durchstechen

 

Überschwemmung und Zerstörung von Bauernland

 

 

 

 

Selbstmord aus Verzweiflung

(Erzählung eines Deichgrafen)

verantwortungsbewusster Deichgraf erlebt im Feb. 1718 eine Sturmflut, bei der auch Eisblöcke gegen den Deich drücken. Lässt gegen den Willen seiner Leute den Deich durchstechen

 

Überschwemmung und Zerstörung von Bauernland

 

 

 

Selbstmord aus Verzweiflung

 

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(wie Jasper)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

(wie Jasper)

 

 

 

 

zeitgenössische Erscheinungen

Wiedergänger (Schimmelreiter) bei gefährlichem Eisgang

Wiedergänger (Schimmelreiter) bei gefährlichem Eisgang

Wiedergänger (Schimmelreiter) bei Sturmflut an gefährdeten Stellen

Wiedergänger (Schimmelreiter), der drohendes Unheil verkündet

Wiedergänger (Schimmelreiter), der vor drohendem Unheil warnt

Wiedergänger (Schimmelreiter), der vor drohendem Unheil warnt

Wiedergänger (Schimmelreiter), der vor drohendem Unheil warnt

Gattung

 

 

 

Umfang

Sage

 

 

 

405 Wörter

Gespenstergeschichte

 

 

 

1097 Wörter

Novelle

Gespenstergeschichte

 

 

1372 Wörter

Sage

 

 

 

349 Wörter

Sage

sprachlich neu gefasst

 

251 Wörter

Sage

fast wörtliche Übernahme; Text am Schluss leicht verändert

342 Wörter

 

 

 

II. Der Schimmelreiter in Eiderstedt

 

Als Heinrich Momsen im Jahre 1890 eine längere Erzählung unter dem Titel „Der Schimmelreiter“ in seinem Heimatbuch „Bilder aus Eiderstedt und den angrenzenden Gegenden“ veröffentlichte (vergl. T 4), war der literarischen Öffentlichkeit Storms gleichnamige Meisternovelle bereits seit zwei Jahren bekannt. Im Frühjahr 1888 erschien zunächst ein Erstdruck in den April- und Maiheften der „Deutschen Rundschau“, und im Herbst die kaum veränderte erste selbständige Buchausgabe im Verlag von Elwin Paetel auf den Markt[27]. Außerdem druckte der Verlag Westermann in Band 19 der letzten von Storm noch durchgesehenen Auflage der „Gesammelten Werke“ die Erzählung noch einmal mit der Jahreszahl 1889 ab, nachdem Storms Sohn Ernst den Text durchgesehen hatte, denn sein Vater war am 4. Juli 1888 verstorben.[28]

Heinrich Momsen hatte also die Möglichkeit, die Novelle zu lesen, bevor er seine Gespenstergeschichte niederschrieb. Dass er sie mit großer Wahrscheinlichkeit kannte, legt der Erzählduktus nahe und belegt ein Motivvergleich: Momsen konstruiert eine Rahmenerzählung, in der ein Erzähler auf dem Deich entlang wandert[29]; er „hatte einen Freund in V. besucht und wollte auf der Heimreise bei dem alten Deichgrafen in K. vorsprechen“. Als ein Sturm heraufzieht, beobachtet er eine alte Fischerfrau, die eine Vision hat, in der ein verstorbener Deichgraf vor einem drohenden Unheil warnt: „Dat gifft Unglück, de ol Diekgraf ritt all waller upp sin Schimmel dör de Bröck!" Die Alte ähnelt Storms Trien’ Jans und sie läuft den Akt am Deich hinunter in ihre Kate. Ähnlich wie in Storms Novelle kommt der Erzähler zu einem Gehöft, wo der Deichgraf residiert. Dort wird ihm von einem väterlichen Freund die eigentliche Sage erzählt. Danach spricht die Frau des Deichgrafen ein Gebet und warnt vor dem „Gespensterglauben“. Der Sturm ist vorbei und hat keine Schäden angerichtet. Zwar stöhnten und ächzten die Eismassen auf dem Fluss „von der Flut des steigenden Stromes emporgehoben“, aber der Deich bricht nicht.

Beide vom Momsen erwähnten Dörfer liegen „unweit des Deiches, der sie, wie die ganze Landschaft vor den Fluten der Eider schützt.“ Seine Erzählung weist viele Parallelen zur Deichsage von der Weichsel bei Danzig auf; er überträgt das Problem des Eisdrucks auf die Eider und wählt als Handlungsort einen Flussdeich an der Südküste Eiderstedts zwischen Vollerwiek und Kating, westlich der Stadt Tönning, die heute zu einem guten Teil innerhalb der Eiderabdämmung liegt.

Bei Otto Fischer[30] lesen wir über die Schäden, die die große Weihnachtsflut vom 24. Dezember 1717 sowie die nachfolgende Eisflut vom 25. Februar 1718 an der Südküste Eiderstedts verursacht haben, Folgendes:

 

Im Osterteil der Landschaft wurden nur die beiden Kirchspiele Oldenswort und Tönning betroffen, ersteres durch eine Überschwemmung des Harbleker Kooges infolge von Deichbrüchen, letzteres durch eine Teilüberschwemmung im westlichen Kirchspielgebiet. Erst bei dem Eisgang der Februarflut 1718 wurde die Tönninger Schleuse herausgerissen und eine ausgedehnte Überschwemmung verursacht. Im übrigen hielten die Eiderdeiche zwischen Koldenbüttel und Kating stand, wenn sie auch durch ,Kammstürzungen‘ erheblich beschädigt wurden. Ebenso blieb der Fünfkommünendeich erhalten, allerdings wurde die Deichkrone durch überströmendes Wasser stellenweise bis auf l Elle (rd. 0,6 m) fortgerissen und eine kleinere Fläche überschwemmt. In der westlich anschließenden Bucht richtete sich der Hauptangriff gegen den Deich des Grothusenkooges, der an verschiedenen Stellen einbrach. Hier wurden bei der Eisflut vom Februar 1718 eine große und eine kleinere Wehle eingerissen. Selbst in dem verhältnismäßig kurzen Seedeich des Dreilandenkooges entstanden 2 Durchbrüche, die Überschwemmung drang über den Mitteldeich bis in den Wattkoog vor. Die Utholmer Eiderdeiche wurden zwar stark beschädigt, aber nicht durchbrochen.

 

Ein zweites Motiv der Sage vom gespenstischen Reiter bei Momsen nennt die Ursache für den Deichbruch und die Überschwemmungen. „Da, als alles verloren schien, beschloß der Deichgraf das letzte Mittel – das Mittel der Verzweiflung – anzuwenden. Ist nämlich keine Hoffnung mehr auf Rettung vorhanden, so öffnet man wohl an einer Stelle, wo die Fluten bei ihrem Eintritt ins Land den geringsten Schaden anzurichten vermögen, den Deich, um dadurch bewohntere Distrikte vor dem ersten Anprall der Wogen zu schützen.“

Reimer Kay Holander hat nach Hinweisen auf eine solche Praxis in Eiderstedt gesucht, ist aber nicht fündig geworden:

 

Gerade der Fünfkommünendeich der Kirchspiele Vollerwiek, Welt, Garding, Katharinenheerd und der Stadt Garding sowie der Eiderdeich bei Kating weiter nach Osten zu waren also nicht gebrochen. Keiner der zeitgenössischen Berichte lässt erkennen, dass ein Deich etwa absichtlich durchstochen worden wäre. Auch eine Durchforschung der Totenregister in den Kirchenbüchern Eiderstedts, soweit sie für die fragliche Zeit vorhanden sind, ergibt keinen Aufschluss; der Tod eines Deichgrafen oder einer ähnlichen Amtsperson, auf dessen ungewöhnliche Umstände hinzuweisen ein Pastor gewiss nicht versäumt haben würde, ist in ihnen nicht zu finden. Solange also nicht neue Quellen erschlossen werden können, bleibt nur die Feststellung: Für einen historischen Hintergrund der von Momsen erzählten ,,Schimmelreiter"-Geschichte in Eiderstedt finden sich keine konkreten Anhaltspunkte.

 

Mehrere Gemeinsamkeiten der Texte weisen darauf hin, dass Momsen als Quelle die Sage „Der Deichgeschworne zu Güttland“ aus dem Danziger Sagenbuch von 1883 (vergl. T 1) benutzt hat; eine zusätzliche Kenntnis der Erzählung „Der gespenstige Reiter“ in Pappes Lesefrüchten (vergl. T 2) ist möglich, war aber für die Textkonstituierung nicht erforderlich.

Allerdings erklärt dieser Befund noch nicht, woher das Motiv des durchstochenen Deiches stammt. Möglich wäre eine Motivübernahme aus Storm Novelle, in der ja der Deichgevollmächtigte Ole Peters einen solchen Befehl gibt. Momsen teilt über die Sagen im Vorwort seines Buches mit: „Zu verschiedenen Zeiten entstanden und teilweise bereits veröffentlicht, geben sie ein Bild der Verhältnisse und Zustände vergangener Zeiten. Was ich beim Studium der Heimatsgeschichte sammelte, worauf ich durch eigene Anschauung aufmerksam wurde, was von den in der Kindheit vernommenen Erzählungen in meiner Seele haften blieb, das habe ich in kleine Bilder zu formen und einzurahmen versucht.“ Von diesen Texten konnte Reimer Kay Holander acht als Zeitungsveröffentlichungen in den „Eiderstedter Nachrichten“ aus Garding ermitteln. „Der Schimmelreiter ist nicht darunter.“[31]

Momsen hat wohl zusätzlich noch eine andere Quelle aus Danzig verwendet, auf die ein Hinweis in den Husumer Nachrichten aus dem Jahre 1926 zu finden ist[32]:

 

Die Schimmelreitersage.

Einen gewaltigen Nogat-Weichsel-Eisgang erlebte ich im Jahre 1827. In rastloser Tätigkeit wurde von den dazu berufenen Deichbeamten mit Unterstützung aller Deichgenossen daran gearbeitet, den gefährdeten Deich zu verteidigen. In der Gefahr befahl der Deichgraf wie ein Militärchef und hatte das Recht, falls ein Deichbruch nicht mehr abzuwenden war, die Durchstechung selbst anzuordnen, um die Hochflut an einer Stelle einzuleiten, wo sie möglichst leicht begrenzt werden konnte. Dieses Recht war natürlich mit der höchsten Verantwortung verbunden. Der Sage nach soll es einmal geschehen sein, daß ein Deichgraf im Moment höchster Gefahr die Durchstechung befohlen habe, doch seien die Fluten dann so gewaltig hereingebrochen, daß jede Begrenzung ausgeschlossen und alles verloren schien. Aus Verzweiflung über das angerichtete Unglück habe der Deichgraf seinem Schimmel die Sporen gegeben und sei mitten in die Fluten hineingesprengt. Und siehe da, im gleichen Augenblick türmten sich die mitgeschwemmten Eisschollen zu beiden Seiten als Wälle auf, und die Gefahr war vorbei. Seither aber sei es ein sicheres Anzeichen kommender Flutgefahr, wenn sich der tote Deichgraf nächtlicherweise auf seinem Schimmel reitend über dem Damm zeige.

 

Die Praxis, den Deich zu durchstechen, um eine gelenkte Überflutung herbeizuführen, wird auch von Abraham Hartwichs „Geographisch-Historische[r] Landes-Beschreibung derer dreyen im Pohlnischen Preußen liegenden Werdern“ beschrieben; ein Sagenmotiv von einem Deichgeschwornen, der einen kalkulierten Durchstich anordnet, ist in der Chronik aus dem Jahre 1722 aber nicht enthalten.

In dem Tagebuch aus dem Jahre 1827 fand Momsen wohl das Motiv, nach dem der Opfertod des Deichgrafen eine weitere Überschwemmung verhindert hat: „Bald darauf setzten sich, wie die Chronik erzählt, große Eisblöcke vor die Oeffnung.“ Ähnlich verhindert das Menschenopfer in der Sage „Der Dammbruch bei Sommerau“ in den Volkssagen Ostpreußens, Litthauens und Westpreußens[33] eine weitere Überflutung der von Menschen kultivierten Ländereien. Auf eine selbstständige, von Theodor Storm unabhängige Tradition geht dieser „Schimmelreiter“ also nicht zurück, Momsen bediente sich nur bei einer Quelle, die Storm wahrscheinlich nicht gelesen hatte.

Auf eine solche Tradition beruft sich aber Johannes Jasper, Lehrer in Oldenswort, als er 1929 in einem Aufsatz über Sturmflutsagen[34] schreibt, er habe die in diesem Beitrag mitgeteilte „Schimmelreiter“-Sage „einer vor etwa vier Jahrzehnten mündlich empfangenen Erzählung nachgebildet.“ Die Sage (vergl. T 4) findet sich in fast gleichem Wortlaut bereits in einem Schulbuch mit Texten aus Eiderstedt, das von Lehrern des Kreises im Jahre 1910 herausgegeben wurde.[35]

In seiner Einleitung über „Die Sagen der Heimat“ schreibt Jasper in seiner ersten Veröffentlichung, dass er 12 von den 13 dort abgedruckten Sagen aus Müllenhoffs Sammlung entnommen habe, „während eine einzige, der Schimmelreiter, nach einer anderen Quelle gegeben ist“. Ein Textvergleich zeigt, dass Jaspers Quelle eindeutig jene zwanzig Jahre zuvor von Heinrich Momsen verfasste Erzählung war (vergl. T 3). Jasper hat der Rahmenerzählung den Sagenkern entnommen und daraus eine Gespenstersage geformt, in der ein Deichgraf in Eiderstedt den Durchstich des Deiches befiehlt, als „nach langem, strengem Froste plötzlich starkes Tauwetter einfiel, zu dem sich ein furchtbarer Nordwest gesellte“. Fast buchstabengetreu übernimmt er die Worte des jähzornigen Mannes aus Momsens Text: „Mein ist die Verantwortung und euer die Pflicht des Gehorchens!“

Jasper korrigiert die Angabe „Januarflut des Jahres 1718“ bei Momsen historisch richtig zu „im Februar 1718“. Allerdings lässt die Fassung von Jasper nicht mehr eindeutig auf das Geschehen an einem Flussdeich schließen. Bei den Deichen in dieser Textversion handelt es sich um Seedeiche der Halbinsel Eiderstedt und bei der Eisflut um eine Sturmflut, bei der das Nordseewasser Deiche bedroht, bis ein solcher durchstochen wird. Durch diese Änderung ähnelt diese Sage dem Sagenkern in Storms Novelle, unterscheidet sich aber auch in dem Motiv der Durchstechung des Deiches.

Der Archivar und Volkskundler Hermann Lübbing übernahm die Schimmelreitersage in der Fassung von Johannes Jasper 1928 in seine Ausgabe „Friesische Sagen. Von Textel bis Sylt“ (vergl. T 5). Die Sage wurde von Lübbing mit dem Hinweis auf die Beiträge zur Heimatkunde in Eiderstedt sowie auf Müllenhoff unter Beibehaltung sämtlicher Motive neu erzählt.[36]

Als der nordfriesische Pastor Rudolf Muuß die Schimmelreitersage 1933 in seine Sammlung „Nordfriesische Sagen“ aufnahm, gab er als Quelle das Buch von Hermann Lübbing an, übernahm den Text aber direkt aus Jaspers erster Veröffentlichung von 1910, in den er stilistisch viel weniger eingriff als Lübbing.[37]

Jaspers Fiktion von der „mündlich empfangenen Erzählung“ wird von dem Husumer Journalisten Felix Schmeißer im Jahre 1934 anlässlich der ersten Verfilmung von Storms „Schimmelreiter“-Novelle nach dem Drehbuch von Curt Oertel und Hans Deppe aufgegriffen: „Seine eigentliche Heimat aber hat er hier oben an der Nordseeküste, und zwar wie in Nord- so auch in Eiderfriesland und jenseits der Eider auch noch im verwandten Dithmarschen. Denn in allen drei Landschaften ist mir noch vor einigen Jahrzehnten die Sage vom gespenstischen, sich unheilverkündend in ein Wehl stürzenden Schimmelreiter von alten Leuten erzählt worden.“[38] Belege für diese Behauptung lassen sich in keinem der vielen Beiträge finden, die Schmeißer über Theodor Storms Leben und Werk veröffentlicht hat.

Auch die Anfrage, die Friedrich Lembke 1957 in der Zeitschrift „Die Heimat“ veröffentlichte[39] stieß auf keine Resonanz: „Eines Abends, spätestens Winter 1885, erzählte sie [die Großmutter] uns von einem Kampf um einen Außendeich, […] der den damals neuen Karolinenkoog schützen sollte. Ihre Erzählung kann dadurch nicht durch Storm veranlaßt sein. Es muß also in der Eidergegend Dithmarschens auch eine Schimmelreitersage gegeben haben, die vielleicht unter der Einwirkung der Eindeichung des Karolinenkooges oder der Sturmflut von 1825, die ja Dithmarschens Eiderniederung hart traf, dorthin verschlagen wurde oder dort neues Leben erhielt.“

Wenn sich Lembke nicht im Datum geirrt hat, so könnte die Quelle für eine solche Erzählung das Danziger Sagenbuch von 1883 gewesen sein. (vergl. T 1).

 

 

Eine Schimmelreiter-Sage hat es also weder in Nordfriesland noch in einer anderen Region der Nordseeküste je gegeben. Theodor Storm, der dies aufgrund seiner umfangreichen Sammeltätigkeit bereits Mitte der 1840er Jahre wusste, wurde zu seiner 1888 veröffentlichten Novelle durch eine Gespenstergeschichte angeregt, für die ein anonymer Verfasser in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Sagenmotiven des Nogat-Weichsel-Deltas bei Danzig eine Wiedergängergeschichte komponiert hatte, in der sich ein Reiter auf einem Schimmel nach einem Deichbruch in die Fluten stürzt.

Heinrich Momsen verfasste zwei Jahre nach dem Erscheinen der Stormschen Novelle eine abweichende Textfassung, für die er auf die gleiche Überlieferung zurückgriff, die auch Storm bekannt war. Er fügte ein weiteres Sagenmotiv (Durchstechen eines Deiches) aus der Danziger Gegend in seinen Text ein und verlegte die Geschichte nach Eiderstedt. Der Text legt nahe, dass Momsen auch Storms Novelle kannte. Der Lehrer Johannes Jasper hat dann Anfang des 20. Jahrhunderts aus diesen Erzähltexten eine Schimmelreiter-„Sage“ hergestellt, die 1928 von Hermann Lübbing und 1934 von Rudolf Muuß noch einmal nacherzählt wurde.

Von diesen beiden Fassungen wurden die vier Schimmelreiter-Texte der in den 1990er Jahren herausgegebenen Sammlungen abgeleitet; sie geben entweder die Fassung von Momsen oder die von Jasper wieder. Gundula Hubrich-Messow übernimmt 1993 den Jasper-Text nach Rudolf Muuß unter dem Titel „Der Schimmelreiter in Eiderstedt“ in einer stilistischen Überarbeitung in ihre Sammlung von „Sagen aus Schleswig-Holstein“[40]. „Das große deutsche Sagenbuch“ von Heinz Rölleke aus dem Jahre 1996 enthält die Schimmelreitersage wörtlich in der Textgestalt von Hermann Lübbing.[41] Und Jurjen van der Kooi hält sich in seinen beiden Sammlungen „Friesische Sagen“ (1994)[42] und „Sagen aus Nordfriesland“ (1996)[43] ebenfalls wörtlich an die längere Textfassung von Heinrich Momsen.

Nach dem in diesem Beitrag erarbeiteten Befund sollten die Herausgeber von regionalen und überregionalen Sagensammlungen auf eine Schimmelreitersage aus Schleswig-Holstein in Zukunft verzichten.

 

 

 

Texte

 

T 1    Der Deichgeschworne zu Güttland. (Greif 1838; Nachdruck: Brandstäter 1883)

Die Deiche (Dämme) sind in der Niederung höchst wichtige Einrichtungen, von deren sorgfältiger Unterhaltung und Ausbesserung und auch Erhöhung das Leben von vielen tausend Personen und unendliche werthvolle Habe abhängt, daher auch das geachtete Amt eines „Deichgeschwornen“ und gar eines „Deichgräf“ einen eben so gewissenhaften wie einsichtvollen und entschlossenen Mann erfordert. Ein solcher war der Deichgeschworne im großen Werder im Dorfe Güttland, von welchem eben die Rede sein soll. Einst im Frühjahre kam, wie oft, die ungeheure Masse des Wassers und des Eises aus der 140 Meilen langen Weichsel und ihren zahlreichen mächtigen Nebenflüssen unerwartet mit furchtbarer Gewalt herab, und bedrohte an vielen Stellen zunächst die Ufer-Gegenden, und dann auch weit entfernte, mit Ueberschwemmung. Das Ueble ist nämlich, daß fern im Süden oft schon völliges Aufthauen des Stromes eintritt, während die nördlichen Theile noch in Winterlage ruhn, und dann hier durch das immer stärker andringende Eis und die immer höher anschwellenden Wassermassen ein gewaltsames Aufreißen des liegenden Eises und ein Zerstören auch der stärksten Dämme eintreten muß. So ritt jener Deichgeschworne denn in der Zeit der Gefahr auf einem prächtigen Schimmel auf dem Damme längs der unaufhörlich steigenden Flut des Stromes hin und her, die Arbeiten überwachend und hie und da Befehle und Weisungen ertheilend. Aber so zweckmäßig diese auch sein mochten, und so eifrig und gewissenhaft sie auch zur Ausführung gebracht wurden, im Kampfe gegen das wilde unaufhaltsame Element unterliegt immer wieder und oft genug auch die noch so stark angestrengte Menschenkraft. Durch eine kleine Oeffnung im Damme, wozu oft schon ein Otternloch Veranlassung gegeben hat, schuf sich die ungeheure Wassermasse einen Ausweg in die breite Niederung, um durch Ueberfluthung schreckliche Verwüstungen in den gesegneten Ländern anzurichten. Mit Entsetzen sah jener Deichgeworne alle seine Bemühung und die von Tausenden vereitelt; er klagte sich, wiewohl mit Unrecht, des Mangels an Umsicht an, daß er auf jene Stelle nicht genügend Acht gegeben, daß durch seine Schuld das blühende Land verwüstet und solche Zerstörungen gemacht seien. Von Verzweiflung übermannt gab er seinem edlen Thiere die Sporen, und mit jähem Sprunge stürzten Roß und Reiter in die schäumenden brausenden Wogen hinab, die sich gleichgültig über ihnen schlossen. Das Volk, voll Bewunderung solcher That, kann den Deichgeschwornen immer noch nicht vergessen; es behauptet, er habe keine Ruhe gefunden und lasse sich namentlich bei gefährlichem Eisgange immer wieder sehen, indem er bei Nachtzeit mit seinem Schimmel in jener Gegend dort in schnellem Trabe oder Galopp den Damm auf- und niedersprenge.

Der Erzähler oder Das Buch für lange Winterabende. Eine Gallerie der interessantesten Erzählungen, der merkwürdigsten historischen Begebenheiten, Empörungen, Verschwörungen, Revolutionen und Kriege aller Zeiten, charakteristische Züge aus dem Leben berühmter Zeitgenossen, vorzüglicher Anekdoten, Witzworte und Epigramme. Allen Ständen zur Unterhaltung gewidmet von Dr. Carl Greif. Jg. 1838, Bd. 1. Grimma 1838.[44]

Hier nach dem Wiederabdruck in: Danziger Sagenbuch. Sagen von der Stadt und ihren Umgebungen. In vollständiger Sammlung von Dr. F. A. Brandstäter, Professor am städt. Gymnasium in Danzig. Danzig 1883. (Gedanensia. Beiträge zur Geschichte Danzigs, Bd. 2.), als Nr. 107 mit dem Hinweis „Greif’s Erzähler, 1838, Band 1.“

 

T 2    Der gespenstige Reiter. Ein Reiseabenteur. (Anonym 1838; Abdruck in Pappes Lesefrüchten)

Es war in den ersten Tagen des Monates April, im Jahre 1829 − so erzählte mir mein Freund − als Geschäfte von Wichtigkeit mein persönliches Erscheinen in Marienburg erforderlich machten; ich mußte mich also zu einer Reise dahin entschließen, so gern ich sie auch bis zur schönern Jahreszeit aufgeschoben hätte, denn wer selten reiset, macht so eine Partie lieber bei schönem Wetter; allein die Nothwendigkeit der Sache machte, daß ich meine Reise beschleunigen mußte.

Ein gemiethetes Reitpferd stand um vier (4) Uhr Nachmittags vor meiner Thüre; ich ließ den Braunen nicht lange warten, schwang mich hinauf, und nach wenigen Minuten hatte ich (mein liebes) Danzig im Rücken.

Mein Weg längs der Chaussee ging gut, und das einzige Hinderniß, welches ich zu bekämpfen hatte, war das kalte, unangenehme, regnigte Wetter.

Durchfroren und durchnäßt kam ich bei ziemlicher Dunkelheit in Dirschau an; stieg im erstgelegenen Gasthof ab, um ein wenig zu ruhen, meinem sich einfindenden Appetit durch einen lmbiß zu begegnen, und durch einen erwärmenden Trunk meine Glieder zu erfrischen; fragte unter Anderm den Wirth, wie es mit der Weichsel stände, und bekam zur Antwort: „Schlecht; Ihr Hinüberkommen wird nicht allein beschwerlich, sondern auch gefährlich sey (sei)n;“ doch ich durfte mich nicht abschrecken lassen, weil ich nach meinem Bestimmungsorte mußte, und wo möglich wollte ich dort noch an demselben Abend(e) eintreffen; ich bezahlte dem Wirthe meine Rechnung und eilte weiter; aber angekommen an der Weichsel, wurde ich von den Fährknechten zu meinem Schrecken unterrichtet, daß das heutige Hinüberkommen für keinen Preis ausführbar sey (sei), wenn ich nicht mit Gewalt in die Arme des Todes eilen wolle; auch sahe ich zum Theil die Unmöglichkeit der Sache wohl selber ein; doch wurde mir der Vorschlag gemacht, daß ich bis zur Güttländer Fähre reiten solle, weil dort das Hinüberschaffen vielleicht noch zu bewerkstelligen seyn (sein) würde. Ich ließ mir dieses nicht zwei Mal sagen, griff in die Zügel, lenkte um, und fort ging's zur Güttlander Fähre. −

Dunkler und dunkler wurde es rings um mich, nur hin und wieder drang das Leuchten eines Sternes durch die Nebelwolken, fremd war mir die in schwarze Schatten gehüllte Gegend, kein menschliches Wesen erblickte ich, und nur das Brausen des Sturmes und das Geprassel des, durch das Wasser immer höher gehobenen und geborstenen Eises waren meine schaurigen Begleiter. - Da plötzlich höre ich dicht hinter mir das rasche Trappeln eines Pferdes, und freudig, in dem Wahne, einen Gesellschafter nahe zu haben, blicke ich mich erwartungsvoll um und sehe − Nichts − wohl aber trabt es immer schärfer und näher, mein Brauner schnaubt und stampft, kaum vermochte mein spitziger Sporn, ihn vorwärts zu treiben, und ein kalter Schauer überlief meinen ganzen Körper; doch beruhigte ich mich, da mein sonderbarer Begleiter verschwunden zu seyn (sein) schien; als ich ihn aber plötzlich wieder, ohne ihn zu sehen, vor mir hersprengen hörte, war es, als wollten mir meine Glieder die Dienste versagen, ein Fieberfrost durchrieselte mich, und mein Pferd wurde höchst unruhig; was aber die Unheimlichkeit noch mehr vermehrte, war: daß dieses unbegreifliche Wesen mir plötzlich und pfeilschnell vorüber zu sausen schien, so hörte sich das ungewöhnliche Geräusch wenigstens an, welches sich wieder allmählig verlor, um aber, wie es schien, mit erneuter Schnelligkeit zurückzukehren; es wieder hören, dicht hinter mir haben, die anscheinende Gestalt eines weißen Pferdes, mit einem schwarzen, menschenähnlichen Gebilde darauf sitzend, mir im fliegenden Galopp (Gallop) vorbeireiten zu sehen, war Eins; mein Brauner machte einen Seitensprung, und es fehlte nicht viel, so wären wir Beide den Damm, ohne es zu wollen, hinabgestürzt.

Ich habe die letzten Feldzüge mitgemacht, feindliche Kugeln tödteten neben mir meine besten Kameraden, vom Kanonendonner bebte die Erde, doch mich machte nichts erbeben; aber hier auf dem Weichseldamme, ich gestehe es zu meiner Schande, zitterte ich an allen Gliedern. −

Da hörte ich in der Ferne das Bellen eines Hundes, und wurde das Blinken eines Lichtes gewahr. Ha! dachte ich, da werden sich auch Menschen befinden, wie du einer bist; schnell ritt ich dem Lichtscheine entgegen, und kam an eine sogenannte Wachtbude; ich stieg ab, und fragte die darin versammelte Menge, ob ich bei ihnen die Nacht über verweilen könnte − denn für heute war ich des Reisens satt - und meine Frage wurde mit „Ja“ beantwortet.

Froh, ein schützendes Obdach gefunden zu haben, brachte ich zuerst mein Pferd in Sicherheit, setzte mich dann ruhig in eine Ecke, pflegte mich, so gut es sich thun ließ, und hörte die Gespräche der Landleute, die hier auf Eiswache waren, mit an; ließ aber wohlbedächtig, um mich nicht Neckereien Preis zu geben, nichts von meinem überstandenen Abenteuer merken.

Da war's, als rauschte irgend etwas dem Fenster vorbei. Mit einem Schreckensausruf sprangen mehre Männer auf, und Einer von ihnen sagte: „Es muß irgendwo große Gefahr seyn (sein), denn der Reiter auf dem Schimmel läßt sich sehen“; und der größte Theil eilte hinaus.

Der Reiter nun befremdete mich nicht, wohl aber die gemachte Bemerkung, weshalb ich den neben mir sitzenden alten Mann ersuchte, mir hierüber eine genügende Erklärung zu geben, worauf ich folgende Auskunft erhielt:

„Vor vielen Jahren, da sich auch unsere Vorfahren hier einst versammelt hatten, um auf den Gefahr drohenden Eisgang genau Acht zu haben, bekleidete ein entschlossener, einsichtsvoller und allgemein beliebter Mann aus ihrer Mitte das Amt eines Deichgeschworenen. An einem jener verhängnißvollen Tage entstand eine Stopfung des Eises, mit jeder Minute stieg das Wasser und die Gefahr; der erwähnte Deichgeschworene, der einen prächtigen Schimmel ritt, sprengte auf und nieder, überzeugte sich überall selbst von der Gefahr und gab zu deren Abwehr die richtigsten und angemessensten Befehle; dennoch unterlagen die Kräfte der schwachen Menschen der schrecklichen Gewalt der Natur, das Wasser fand durch den Damm einen Durchweg, und schrecklich war die Verheerung, die es anrichtete. Mit niedergeschlagenem Muthe kam der Deichgeschworene in gestrecktem Gallopp beim Deichbruche an, durch den sich das Wasser mit furchtbarer Gewalt und brausendem Getöse auf die so ergiebigen Fluren ergoß; laut klagte er sich an, auf diese Seite nicht genug Acht gegeben zu haben, sah darauf still und unbewegt dieses Schrecken der Natur einige Augenblicke an; dann schien ihn die Verzweiflung in vollem Maaße zu ergreifen, er drückt seinem Schimmel die Sporen in die Seiten, ein Sprung − und Roß und Reiter verschwinden in den Abgrund. − Noch scheinen Beide nicht Ruhe gefunden zu haben, denn sobald Gefahr vorhanden ist, lassen sie sich noch immer sehen.“ −

Ich setzte am andern („andern“ fehlt im Danziger Dampfboot) Morgen meine Reise weiter fort, sah den Reiter nicht wieder, wohl aber die schreckliche Verheerung, die das Wasser im obengenannten Jahre angerichtet hatte.

Hiemit schloß mein Freund, betheuerte die Wahrheit der Sache, und schien durch mein Kopfschütteln verdrießlich werden zu wollen.

Der gespenstige Reiter. Ein Reiseabentheuer („……..n.“). In: Danziger Dampfboot für Geist, Humor, Satire, Poesie, Welt- und Volksleben, Korrespondenz, Kunst, Literatur und Theater. Nr. 45 vom 14.4.1838.

Nachdruck: Der gespenstige Reiter. Ein Reiseabenteur. In: Lesefrüchte vom Felde der neuesten Literatur des In- und Auslandes. Gesammelt von Dr. J. J. C. Pappe. Jg. 1838. Zweiter Band, Hamburg 1838, 8tes Stück. Mit dem Hinweis „Das Danziger Dampfboot.“

Hier nach dem Wiederabdruck in Pappes „Lesefrüchte(n)“.  Der Wiederabdruck der Erzählung erfolgte mit geringen Veränderungen gegenüber der Quelle; sie sind in Klammern eingefügt; der Nachdruck war die unmittelbare Quelle für Theodor Storm.

 

T 3    Der Schimmelreiter. (Heinrich Momsen 1890)

Es muß im Januar der sechziger Jahre gewesen sein. Ich hatte einen Freund in V. besucht und wollte auf der Heimreise bei dem alten Deichgrafen in K. vorsprechen. Am Spätnachmittag trat ich meine Wanderung an.

Da beide Dörfer unweit des Deiches liegen, der sie, wie die ganze Landschaft vor den Fluten der Eider schützt, so wählte ich als Weg für die Rücktour den Kamm des Deiches. Der Himmel wölbte sein blaues Zelt klar und glänzend über mir. Nur im Westen standen dunkle Wolken, die den Untergang der Sonne verhüllten. Zu meiner Rechten zog sich der Strom dahin. Noch lag auf seinem breiten Rücken die Eisdecke, hervorgerufen durch den starken Dezemberfrost; aber der Januar hatte mildere Lüfte gebracht, und stündlich erwartete man, daß die stolze Flut die Fesseln des Stromes brechen würde. Zu meiner Linken dehnte sich die fruchtbare Marschlandschaft mit ihren stattlichen Dörfern, ihren auf Warften liegenden, von hohen Bäumen umschlossenen Gehöften aus, und der zarte Schnee glitzerte im Scheine des Vollmondes, der eben aufgegangen war. Rüstig schritt ich dahin.

Bereits war die letzte Spur des Abendrotes in dem immer höher aufsteigenden Gewölk verschwunden. Mit wunderbaren Gestalten bedeckte es nach und nach den größten Teil des Firmaments und drohte das freundliche Licht des Mondes, der noch in voller Klarheit über der östlichen Hügelreihe schwebte, zu verhüllen. Lebhafter begann der Wind durch die blätterlosen Zweige der Eschen, Pappeln und Linden, welche die Gehöfte umgaben, zu pfeifen. In phantastischen Gestalten zogen die Wolken dahin, und Licht und Schatten wechselten rasch, so wie der Mond von ihnen verschlungen wurde, oder sich durch ihre finsteren Massen Bahn brach. Ich merkte es deutlich, daß ein Sturm im Anzuge war. Rechts stöhnten und ächzten die Eismassen, von der Flut des steigenden Stromes emporgehoben, als hätten Kobolde und Wassergeister dort ihr Spiel. Links zogen Scharen von Krähen, vom Sausen des Windes aufgeschreckt, kreischend über die weite Ebene dahin und suchten Schutz bei dem Gemäuer der Höfe.

Plötzlich bemerkte ich eine Gestalt vor mir auf dem Deiche. Hell warf der Mond, welcher jetzt aus dunklem Gewölk hervortrat, sein Licht auf dieselbe; es war eine Frau, deren Haar und Gewand im Winde flatterten. Ihre Blicke waren auf den Strom, wo anhaltendes Krachen das Brechen des Eises verkündete, gerichtet. Sie hatte mein Kommen nicht bemerkt. Heftig streckte sie ihre Arme gegen das wildbewegte Wasser und deutlich hörte ich die Worte: „Dat gifft Unglück, de ol Diekgraf ritt all waller upp sin Schimmel dör de Bröck!"

Unwillkürlich folgten meine Augen den Bewegungen ihrer Arme; ich sah ein seltsam gestaltetes Wolkengebild, das schnell über den Strom dahinzog.

Als ich die Frau freundlich begrüßte, erschrak sie heftig und eilte auf der ,, Schlippe“, die von dem Kamm des Deiches nach unten führte, den Fischerhütten zu, die dort am Fuße des Binnendeiches lagen.

Auf mich hatte die ganze Erscheinung einen unheimlichen Eindruck gemacht, und ich war herzensfroh, als das stattliche Gehöft des Deichgrafen vor mir lag.

Ich wurde von der Frau des Hauses gar herzlich begrüßt; denn schon als Knabe war ich im Hause des Deichgrafen oft gastlich aufgenommen worden. Als ich mich nun nach ihrem Manne, dem Deichgrafen, erkundigte, antwortete sie:

„Mein Mann ist schon seit heute morgen nach dem Osterdistrikt und hält Deichschau; ich erwarte ihn aber jeden Augenblick zurück.“ Gar bald wurde denn auch Pferdegetrappel vernehmbar; der Deichgraf war von seinem beschwerlichen Ausfluge zurückgekommen. Er war über mein Erscheinen sehr erfreut; denn seit einigen Jahren hatte er mich nicht gesehen.

Bald deckte ein kräftigendes Mahl den Tisch, das nach der anstrengenden Wanderung vortrefflich mundete. Dann saßen wir im trauten Zimmer gemütlich beim erwärmenden Trunk und das Gespräch ward bald lebhaft. Als ich dann von meinem Abenteuer auf dem Deiche erzählte und nach dem alten Deichgrafen, der aus dem Bruch herausgekommen sein sollte, fragte, entgegnete er: „Du bist mit der verrückten Lise zusammengekommen, die allenthalben Gespenster wittert.“

„Und der Deichgraf?“

„Ja, das ist eine tolle Geschichte aus alter Zeit, die sich forterbt von Geschlecht zu Geschlecht; wenn es Dir Vergnügen macht, so will ich sie erzählen.“

Der Deichgraf erzählte wie folgt:

„Es war in der Januarflut des Jahres 1718, als unsere Gegend, wie die Chronisten berichten, von einem großen Unglück heimgesucht wurde. Die steigende Flut hatte die Eisdecke des Stromes zerbrochen und die mächtigen Eisschollen fast bis zur Höhe des Deichkammes emporgehoben. Immer stärker begann der Sturm aus Nordwest zu toben, und die mächtigen Eisstücke, von Wind und Wasser gegen den Damm geschleudert, drohten denselben zu durchbrechen.

Die Glocken der Dorfkirchen verkündeten durch ihr Sturmgeläute die Größe der Gefahr und riefen die Bewohner der Landschaft zur Verteidigung ihrer Habe herbei. Alles, was menschliche Kraft und Weisheit vermochten, wurde versucht; aber es schien umsonst zu sein. Laut weinten und klagten die Weiber und die Kinder. Verzweiflungsvoll blickten die Männer auf ihren Deichgrafen, der auf seinem weißen Schimmel bald hier-, bald dorthin galoppierte, um seine Mannschaften im Kampfe gegen das tobende Element anzufeuern. Höher und höher türmten sich die Eisschollen in dem schäumenden Strome, und eine Stopfung in der Mitte desselben erhöhte alsbald die Gefahr. Bereits begann das höhersteigende Gewässer große Eisstücke über den Kamm des Deiches zu schleudern, und ein Durchbruch schien unvermeidlich. Da, als alles verloren schien, beschloß der Deichgraf das letzte Mittel – das Mittel der Verzweiflung – anzuwenden.

Ist nämlich keine Hoffnung mehr auf Rettung vorhanden, so öffnet man wohl an einer Stelle, wo die Fluten bei ihrem Eintritt ins Land den geringsten Schaden anzurichten vermögen, den Deich, um dadurch bewohntere Distrikte vor dem ersten Anprall der Wogen zu schützen.

Der Deichgraf machte seine Geschworenen mit seinem Entschluß bekannt; aber nur wenige stimmten ihm bei; sie wollten lieber der Barmherzigkeit des Allmächtigen sich anheimgeben, als durch eigenmächtiges Handeln eine große Verantwortung auf sich laden. Aber der Deichgraf war, wie die Chronik berichtet, ein wilder, jähzorniger Mann. „Mein ist die Verantwortung“, brauste er auf. „Eure Pflicht ist es, zu gehorchen.“

Dort am Deiche, wo du den großen Weiher gesehen hast, ward der Durchstich unternommen. Er ist ein Denkmal aus jener bösen Zeit. Recht oft überschwemmen die Hochfluten die durch niedrigere Deiche geschützten Sommerköge, aber die Gewässer fließen bei eintretender Ebbe wieder ins Meer. Dort aber, wo am Hauptdeich, der die bewohnte Marsch schützen soll, ein Durchbruch geschieht, wühlt die brandende Flut tiefe Löcher ins Erdreich und noch nach Jahrhunderten predigen sie uns von Sturmflut, Ueberschwemmung und Not. Wild brausten jetzt die entfesselten Fluten durch den Durchstich. Immer größer ward der Bruch, immer größer auch die Verzweiflung der unglücklichen Marschleute. Mit entsetzlichen Beschuldigungen drang man gegen den armen Deichgrafen ein, der starren Auges auf sein Werk schaute, das er hervorgerufen hatte, nun aber nicht mehr hindern konnte.

Da plötzlich, von Verzweiflung erfaßt, spornte er sein Pferd an und stürzte sich mit demselben in den Bruch. Bald darauf setzten sich, wie die Chronik erzählt, große Eisblöcke vor die Oeffnung. Der Sturm hörte auf, die Wasser mit den Eisschollen zogen dem Meere zu, und das Unglück ward nicht größer. Die Leichen des unglücklichen Deichgrafen und seines Schimmels aber fand man nie wieder.

Das ist die Sage von dem alten Deichgrafen; aber das abergläubische Volk, das allenthalben Gespenster sieht, gönnt ihm in seinem nassen Grabe keine Ruhe. Sobald uns oder der nächsten Umgebung ein Unglück droht, kommt er, der Sage nach, aus dem Bruch hervor, um durch sein Erscheinen das Unheil zu verkünden.“

Mein alter Freund schwieg. In dem Zimmer war es ganz still, sämtliche Zuhörer waren sichtlich ergriffen. Jetzt nahm die würdige Hausfrau ein altes Gebetbuch von dem Wandbord und las mit bewegter Stimme:

 

„Bewahre uns in dunkler Zukunft Ferne

Vor Sturm und Flut, vor wildbewegtem Meer!

Du zählst ja, Vater, selbst des Himmels Sterne,

Du lenkst der Wogen unermeßlich Heer;

Drum blicken wir voll Zuversicht und Hoffnung

Hinauf zu Dir, der waltet in der Höh‘;

Du nur allein kannst Jammer von uns wenden,

Die ferne Zukunft steht in Deinen Händen.“

 

„Ja, so ist's recht,“ sagte der Deichgraf, „fort aber mit allem Gespensterglauben. Komm, junger Freund, wir wollen noch einmal auf den Deich hinauf, es ist ja meine Pflicht, in den Strom zu sehen.“

Gern folgte ich ihm, der Sturm hatte sich gelegt. Klar und ruhig sah der Mond herab und beleuchtete den majestätischen Strom. Mit dumpfem Rauschen zogen die mächtigen Schollen, sich bald übereinander schiebend, bald sich zermalmend, von der Ebbe in Bewegung gesetzt, dem Meere zu.

Heinrich Momsen: Der Schimmelreiter. In: Bilder aus Eiderstedt und den angrenzenden Gegenden. Garding 1890, S. 73-77.

 

T 4    Der Schimmelreiter. (Johannes Jasper 1910)

Zu Anfang des 18. Jahrhunderts lebte in Eiderstedt ein Deichgraf, der wohl ausgerüstet war mit den Eigenschaften, die sein verantwortungsschweres Amt von ihm verlangte. Es geschah aber, daß im Februar 1718 nach langem, strengem Froste plötzlich starkes Tauwetter einfiel, zu dem sich ein furchtbarer Nordwest gesellte. Samt den wilden, grimmen Wassern schlugen gewaltige Eisblöcke, auf den ungestümen Wogen zahlreich treibend, in heftigem Anprall gegen die schützenden Deiche, und die Bewohner sahen angstvoll drohendes Unglück nur zu deutlich vor Augen. In der Nacht des 25. Februar war der Deichgraf, wie immer auf seinem Schimmel reitend, mit den Mannen mehrerer Kirchspiele an einer besonders stark gefährdeten Stelle des Deiches auf dem Posten und ordnete und leitete hier ein schweres Kämpfen mit klarer Umsicht und ruhiger Tatkraft. Aber ob vieler Menschen Hände auch rastlos arbeiteten, um einen Durchbruch zu verhindern, es wäre auf die Dauer vergebliches Ringen und Mühen gewesen. Sobald der Deichgraf solches erkannte, befahl er, in einiger Entfernung den Deich zu durchstechen und so den Wassern freiwillig Bahn ins Land zu geben. Größeres Unheil glaubte er, der Tragweite seiner Worte schweren Herzens sich bewußt, durch dieses Mittel als durch ein kleineres Übel abwenden zu können. Die verständnislose Menge der Umstehenden war starr vor Entsetzen; allein in wild aufbrausendem Zorn und harter Rede fuhr der Deichgraf sie an: „Mein ist die Verantwortung und Euer die Pflicht des Gehorchens!“ Wie aber bald die Fluten der See brausend und schäumend durch den Deich stürzten und weite und immer größere Flächen Landes deckten, da loderte die Wut der sonst so ruhigen Friesen in schrecklichen Verwünschungen gegen den Deichgrafen auf. Der aber stürzte sich mit seinem Pferde in den Bruch. Alsobald schlossen mächtige Eisschollen den Durchstich; der Sturm legte sich, und die Wasser traten langsam zurück. Wohl hat man die Leichen des Deichgrafen und seines Schimmels nicht gefunden; aber manchmal jagt in stürmischer Nacht ein Reiter auf weißem Rosse aus dem Bruch hervor und längs dem Deiche. Mancher einsame Wanderer, der spät des Wegs kam, hat ihn gesehen und gewußt, daß es der Deichgraf war, der die Menschen solcherweise vor nahem, großem Unglück warnen wollte.

J. Jasper: Der Schimmelreiter. In: Eiderstedt. Beiträge zur Heimatkunde. Geschrieben von Lehrern des Kreises. Garding 1910, S. 102f.

 

T 5    Der Schimmelreiter. (Hermann Lübbing 1928)

Vor langen, langen Jahren geschah es einmal, daß nach einem strengen Froste im Februar plötzlich starkes Tauwetter einsetzte. Dazu gesellte sich ein furchtbarer Nordwest, der die grimmen Wogen mit gewaltigen Eismassen gegen den Eiderstedter Deich trieb. Die Einwohner sahen voll Angst dem kommenden Unglück entgegen. In der Nacht war der Deichgraf auf seinem Schimmel mit den Deichleuten zu einer gefährdeten Stelle geritten und gab ruhig und wohlüberlegt seine Befehle. Aber ob viele fleißige Menschenhände gleich rastlos arbeiteten, um einen Deichbruch zu verhindern, so mußte der Deichgraf doch erkennen, daß das Mühen auf die Dauer vergeblich war. Er befahl, in einiger Entfernung den Deich durchzustechen und die Wogen freiwillig einzulassen, damit kein größeres Unheil angerichtet würde. Die Deichleute waren starr vor Entsetzen und weigerten sich; da fuhr er sie zornig an: „Ich trage die Verantwortung, und ihr habt zu gehorchen.“ Mürrisch führten sie den Befehl aus, aber als die See brausend durch den Deich brach und immer größere Landflächen bedeckte, flammte der Zorn der Friesen auf, und sie bedrohten den Deichgrafen mit schrecklichen Verwünschungen. Der aber gab seinem Schimmel die Sporen, und Roß und Reiter stürzten in die Brake hinab und wurden nicht mehr gesehen. Alsbald schlossen mächtige Eisschollen den Durchstich, auch legte sich der Sturm, und die Wasser traten langsam zurück.

Später haben nächtliche Wanderer einen Reiter auf einem Schimmel aus dem Bruch hervorkommen sehen. Das ist der Deichgraf, der noch immer an stürmischen Tagen wiedergeht und den Deich entlang reitet, als wolle er die Menschen vor einem nahen Unglück warnen.

Hermann Lübbing: Friesische Sagen. Von Texel bis Sylt. Jena 1928, S. 151.

 

T 6    Der Schimmelreiter in Eiderstedt. (Rudolf Muuß 1933)

Zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts lebte in Eiderstedt ein Deichgraf, der wohl ausgerüstet war mit den Eigenschaften, die sein verantwortungsschweres Amt von ihm verlangte. Es geschah aber, daß im Februar 1718 nach langem, strengem Froste plötzlich starkes Tauwetter einfiel, zu dem sich ein furchtbarer Nordwest gesellte. Samt den wilden, grimmen Wassern schlugen zahlreiche Eisblöcke, auf den ungestümen Wogen treibend, in heftigem Anprall gegen die schützenden Deiche, und die Bewohner sahen angstvoll drohendes Unglück vor Augen. In der Nacht des 25. Februar war der Deichgraf, wie immer seinen Schimmel reitend, mit den Mannen mehrerer Kirchspiele an einer besonders stark gefährdeten Stelle des Deiches auf dem Posten und ordnete und leitete hier ein schweres Kämpfen mit klarer Umsicht und ruhiger Tatkraft. Aber ob vieler Menschen Hände auch rastlos arbeiteten, um einen Durchbruch zu verhindern, es wäre auf die Dauer vergebliches Ringen und Mühen gewesen. Sobald der Deichgraf solches erkannte, befahl er, in einiger Entfernung den Deich zu durchstechen und so den Wassern freiwillig Bahn ins Land [zu] geben. Größeres Unheil glaubte er, der Tragweite seiner Worte schweren Herzens sich bewußt, durch dieses Mittel als durch ein kleineres Uebel abwenden zu können. Die verständnislose Menge der Umstehenden war starr vor Entsetzen; allein in wild aufbrausendem Zorn und harter Rede fuhr der Deichgraf sie an: „Mein ist die Verantwortung und euer die Pflicht des Gehorchens![“] Als bald danach die Fluten der Nordsee brausend und schäumend durch den Deich stürzten und immer weitere Flächen Marschland bedeckten, da machte der Zorn der sonst so ruhigen Friesen sich in heftigen Verwünschungen gegen den Deichgrafen Luft. Der aber stürzte sich mit seinem Pferd in den Deichbruch hinein. Alsbald schlossen mächtige Eisschollen den Durchstich, der Sturm legte sich, und die Wasser traten langsam wieder zurück. Die Leichen des Deichgrafen und seines Schimmels hat man nie gefunden, aber manchmal jagt in stürmischen Nächten ein Reiter aus dem Deichbruch hervor und den Deich entlang. Mancher einsame Wanderer, der spät des Weges kam, hat den Wiedergänger gesehen und gewußt, daß es der Deichgraf war, der die Menschen vor nahendem Unglück warnen wollte. (Vergl. Theodor Storms „Schimmelreiter“).

Rudolf Muuß: Nordfriesische Sagen. Flensburg 1933, S. 87f.

 

 

Anmerkungen


 

[1] Zuerst gedruckt in: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 60.2011, S. 67-92.

[2] Gundula Hubrich-Messow (Hg.): Sagen aus Schleswig-Holstein. München 1993.

[3] Friesische Sagen. Gesammelt und hg. von Jurjen van der Kooi. München 1994.

[4] Heinz Rölleke: Das große deutsche Sagenbuch. Düsseldorf 1996.

[5] Jurjen van der Kooi: Der Ring im Fischbauch. Sagen aus Nordfriesland. Leer 1998.

[6] Dazu ausführlich Reimer Kay Holander: Der Schimmelreiter – Dichtung und Wirklichkeit. Kommentar und Dokumentation zur Novelle „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm. Neue, verbesserte und aktualisierte Ausgabe. Bredstedt 2003, S. 23-52.

[7] Karl Hoppe: Der gespenstige Reiter. Eine unbekannte Quelle Storms. In: Westermanns Monatshefte, Braunschweig (1949) 5, S. 45–47.
Vgl. auch: Theodor Storm: Ausgewählte Werke, hg. von Karl Hoppe. Braunschweig 1948, Bd. 4, S. 424-428.

[8] Karl Ernst Laage: Der ursprüngliche Schluß der Stormschen „Schimmelreiter“-Novelle, in: Euphorion 73 (1979), S. 451–457, und in STSG 30 (1981), S. 57–67.

[9] Vgl. Gerd Eversberg: Der echte Schimmelreiter. So (er)fand Storm seinen Hauke Haien. Heide 2010.

[10] Theodor Storm, Sämtliche Werke, hg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier, 4 Bde, Frankfurt am Main 1987/88. „Der Schimmelreiter“ in Bd. 3, hg. von Karl Ernst Laage, Frankfurt am Main 1988, S. 634. Im Folgenden zitiert als „LL“.

[11] Vergl. Gerd Eversberg (Hg.): Theodor Storm: Anekdoten, Märchen, Sagen, Sprichwörter und Reime aus Schleswig-Holstein. Texte, Entstehungsgeschichte, Quellen. Unter Berücksichtigung der von Theodor Mommsen beigetragenen Sagen nach den Handschriften und Erstdrucken. Heide 2005.

[12] Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg, Kiel 1845. Neue Ausgabe besorgt von Otto Mensing. Schleswig 1921. In Lauenburg: Ein Deichgraf… (Anmerkung zu Sage Nr. 277). Hier nach der Ausgabe von 1845.

[13] Theodor Storms Briefwechsel mit Theodor Mommsen. Hg. von Hans-Erich Teitge. Weimar 1966, S. 49.

[14] Dieses letzte Motiv hat Storm kurz vor Drucklegung gestrichen; vgl. die Dokumentation bei Karl Ernst Laage (wie Anm. 7). Die meisten dieser Sagenmotive sind in Müllenhoffs Sammlung vertreten: Das Teufelspferd, Nr. 375; Weiße Pferde, Nr. 376.2; Hel, Nr. 390. (Nummern nach der Ausgabe von 1921).

[15] Theodor Storm: Lena Wies. Ein Gedenkblatt, geschrieben 1870; veröffentlicht in: Deutsche Jugend 1 (1873), S. 71–75; zit. nach LL 4, S. 179.

[16] Gerd Eversberg: Die Rungholtsage. In: Nordelbingen 74 (2005), S. 113-143.

[17] Hermann Bausinger: Vorliterarische Formen. In: Fischer Lexikon Literatur, hg. von Ulfert Ricklefs, Frankfurt am Main 1996.

[18] Das Folgende nach Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens Bd. 9, S. 165ff. (Directmedia Berlin 2006. Digitale Bibliothek 145.)

[19] Niedersächsische Sagen und Märchen. Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anm. und Abhandlungen hg. von Georg Schambach und Wilhelm Müller. Göttingen 1855.

[20] Theodor Storm: Braunes Taschenbuch, Eintrag vom 2.7.1886. In: LL 4, S. 552.

[21] Die Volkssagen Ostpreußens, Litthauens und Westpreußens. Gesammelt von W.J.A. von Tettau und J.D.H. Temme. Berlin 1837, S. 109, mit dem Hinweis „Hartwich Beschreib. der Werder S. 491.

[22]Hrn. Abraham Hartwichs, Weyland Pastoris zu Bährenhof, im Marjenburgischen Werder, Geographisch-Historische Landes-Beschreibung derer dreyen im Pohlnischen Preußen liegenden Werdern, als des Dantziger-, Elbing- und Marienburgischen; [...]. Alles aus bewährten Scribenten, wie auch aus Kirchen-Büchern und andern bisher ungedruckten Documentis und der selbsteigenen Erfahrung getreulich aufgesetzet. Nach dem Tode des Autoris aber, aus dessen eigenhändigem Manuscripto herausgegeben, und mit einer neuen und accuraten Land-Carte versehen. Königsberg 1722, S. 491: „Anno 1463 den Dienstag vor Jubilate, hat der starcke Wind das Wasser so hoch getrieben, daß es in dem Wall bey Sommerau ein Otter-Loch erreichet, und hat dadurch einen so grossen Bruch gemacht, daß fast alle Dörfer im Fischauischen Werder, nebst vielem Vieh sind ersäufet, die beweg- und unbewegliche Güter verwässert, und hat die Leuthe gantz arm gemacht, das Wasser ist hernach in den Drausen und in das Haff verlaufen. Es hat damahls der Bruch eine unsägliche Mühe gekostet, ehe er hat können gestopfet werden, denn was die Leuthe des Tages gemacht, ist des Nachts wieder versuncken. Es ist eine gemeine Rede im Werder, daß die Bauren einen Bettler sollen besäuft, an das Loch geführt, und in den Bruch gestürzt haben, davon der Bruch hernach hat können gefüllet und befestiget werden. Und das hätten sie auf Anrathen eines frembden Mannes gethan, der sich einmahl bey ihren Rahtschlägen soll eingefunden haben.“

[23] Vgl. Karl Ernst Laage: Der „Schimmelreiter“ im „Danziger Dampfboot“. In: STSG 20 (1971), S. 72-75. Außer den hier gedruckten zwei Berichten hat Laage weitere ähnliche Ereignisse dokumentiert.

[24] Hans Georg Siegler: Ist der „Schimmelreiter“ der Deichgeschworene von Güttland? In: Danziger Hauskalender 35(1983).

[25] Harald Steinert: Der Name des Schimmelreiters. Das Vorbild für Storms berühmte Novelle war der Deichgeschworene Andreas Wannow. In: Danziger Hauskalender, 43(1991).

[26] Vgl. meine ausführlichen Untersuchungen zum „Schimmelreiter“ (wie Anm. 8). Auch Reimer Kay Holanders gründliche Überprüfung von zwölf Sagensammlungen der verschiedenen Regionen an Nord- und Ostseeküste hat nichts erbracht (wie Anm. 5, S. 28f.).

[27] Erstdruck in: Deutsche Rundschau (April und Mai 1888), S. 1–34 und 161–203.
Erste Buchausgabe: Der Schimmelreiter. Novelle von Theodor Storm, Berlin 1888.

[28] Theodor Storm‘s Gesammelte Schriften, Bd. 19, Braunschweig 1889, S. 99-326.

[29] Hier folge ich der detaillierten Analyse von Reimer Kay Holander (wie Anm. 6), S. 43f.

[30] Otto Fischer: Landgewinnung und Landerhaltung in Schleswig-Holstein. Berlin 1955. (Das Wasserwesen an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste. Dritter Teil: Das Festland. Band 3: Eiderstedt.), S. 210.

[31] Reimer Kay Holander (wie Anm. 6), S. 43.

[32] Die Husumer Nachrichten vom 16. November 1926 melden unter der Überschrift „Die Schimmelreitersage“: „Theodor Storms berühmte Novelle ist wohl allgemein bekannt. Neu aber dürfte es den Lesern sein, daß die der Novelle zugrunde gelegte Volkssage nicht örtlich begrenzt ist, sondern auch in anderen Teilen unseres Vaterlandes von Mund zu Mund ging. In einem Tagebuch aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts findet sich darüber, wie A. H. in den Flensb. Nachr. schreibt, folgende Mitteilung: [es folgt der Text].“ Die Quelle für diesen Bericht konnte bisher nicht ermittelt werden.

[33] Die Volkssagen Ostpreußens, Litthauens und Westpreußens (wie Anmerkung 20).

[34] Sturmflutsagen. Mitgeteilt und mit einer Einleitung versehen von J. Jasper. In: Heimaterde. Unterhaltungsbeilage zur „Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung. Rendsburger Tageblatt“ Nr. 13 vom 8.10.1929.

[35] J. Jasper: Der Schimmelreiter. In: Eiderstedt. Beiträge zur Heimatkunde. Geschrieben von Lehrern des Kreises. Garding 1910, S. 102f.

[36] Hermann Lübbing: Friesische Sagen. Von Texel bis Sylt. Jena 1928, S. 151.

[37] Rudolf Muuß: Nordfriesische Sagen. Flesnburg 1933, S. 87f. (Neudruck: Husum 1992.)

[38] Felix Schmeißer: Storms Schimmelreiter. Seine Vorgeschichte und sein Schauplatz. In: Stormarnische Heimatblätter 148 (Februar 1934).

[39] Die Sage vom Schimmelreiter. Eine Anfrage von Friedrich Lembke. In: Die Heimat, Neumünster, (1957) 7, S. 181.

[40] Gundula Hubrich-Messow (Hg.): Sagen aus Schleswig-Holstein. München 1993. („Der Schimmelreiter in Eiderstedt“, S. 93 f.)

[41] Heinz Rölleke: Das große deutsche Sagenbuch. Düsseldorf 1996. („Der Schimmelreiter“, S. 50.)

[42] Friesische Sagen. Gesammelt und herausgegeben von Jurjen van der Kooi. München 1994. („Der Schimmelreiter“, S. 119–123.)

[43] Jurjen van der Kooi: Der Ring im Fischbauch. Sagen aus Nordfriesland. Leer 1998. („Der Schimmelreiter“, S. 93-96.)

[44] Es ist bisher nicht gelungen, ein Exemplar dieses Bandes für einen Textvergleich zu beschaffen.