Die Rungholt-Sage[1]

 

Von allen Sagen Schleswig-Holsteins ist die Erzählung vom Untergang des Fleckens Rungholt die populärste; dazu hat auch Detlef von Liliencron mit seiner Ballade „Trutz blanke Hans“ beigetragen, in der er das Bild einer großen Stadt mit stolzen Bürgern zeichnet, die in ihrem Übermut die Natur herausfordern und dafür mit einer gewaltigen Sturmflut bestraft werden. Die Sage selber ist in vielen Sammlungen enthalten, die bis heute veröffentlicht werden[2]. Das Interesse an dieser Sturmflutsage erklärt sich nicht nur aus der Faszination des sagenhaften Ortes Rungholt, der wie die Stadt Vineta im Meer versunken sein soll. Sie greift auch ein für alle Küstenbewohner bedeutsames Thema auf, die Bedrohung durch die Stürme der Nordsee und den Kampf gegen die Naturgewalten, die sich an der Westküste des nördlichsten Landesteils Deutschlands immer wieder in verheerenden Überschwemmungen äußern.[3]

Mit dem Namen Rungholt verbindet sich die Erinnerung an eine der größten Sturmfluten des 14. Jahrhunderts, die eine Folge von Landverlusten vor den heutigen Landkreisen Dithmarschen und Nordfriesland einleitete, deren zweiter Höhepunkt die Flut von 1634 war, als die Insel Strand zerbrach, und die im Wesentlichen noch heute vorhandene Insel- und Halligenlandschaft zwischen Sylt im Norden und der Halbinsel Eiderstedt im Süden entstand. Während die Flut des 17. Jahrhunderts von zeitgenössischen Chronisten genau dokumentiert wurde, hielten sich von der ersten großen „Mandränke“ nur vage Vorstellungen im kollektiven Bewusstsein der betroffenen Bevölkerung. Die Zeitangaben in den alten Chroniken sind ungenau; man nahm zuerst an, Rungholt sei um 1200 untergegangen und korrigierte dann zu 1300. Erst später begann man damit, die Erinnerungen der Sage mit den Ereignissen im Spätmittelalter zu verknüpfen und konnte schließlich Rungholts Untergang mit der Sturmflut von 1362 verbinden.[4] Die Frage, ob eine Siedlung mit dem Namen Rungholt wirklich existiert hat oder ob es sich um ein Produkt der Fantasie handelt, bewegte die Gemüter im 20. Jahrhundert. Neuere Quellenstudien belegen die Existenz von Rungholt als bedeutender Siedlungs- und Handelsplatz im Norden; archäologische Untersuchungen erlauben uns, den untergegangenen Ort ungefähr zu lokalisieren und die Ursache für seinen Untergang zu erklären.[5] Die Rungholt-Sage tradiert neben ihren inhaltlichen Aussagen auf einer symbolischen Ebene einen Komplex von Bedeutungen, die von der Gruppe der Chronisten, die sie überliefert und geformt haben, anders verstanden wurden als von Lesern späterer Jahrhunderte.

 

 

I. Theodor Storm als Sammler Schleswig-Holsteinischer Sagen

 

Die Rungholt-Sage in der Form, in der wir sie heute kennen, wurde erstmals 1845 in der von dem Kieler Germanisten Karl Müllenhoff herausgegebenen Sammlung „Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg“ gedruckt.[6] Diese Sammlung hat wie kein anderes regionales Sagenbuch des 19. Jahrhunderts bis heute fortgewirkt; viele der darin enthaltenen Texte haben einen Bekanntheitsgrad erreicht, wie dies sonst nur für die überregionale Sammlung der Brüder Grimm gilt. Obwohl die Volkskunde in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und weiter bis in die 1930er Jahre sich sehr intensiv um Märchen und Sagen in Schleswig-Holstein bemüht hat[7], wurde die von Müllenhoff veröffentlichte Sammlung bisher keiner größeren quellenkritischen Untersuchung gewürdigt.

Karl Müllenhoff[8] setzte 1843 eine Arbeit fort, die von den Kieler Studenten Theodor Storm[9] und Theodor Mommsen[10] zwei Jahre zuvor in ihrer „Klique“ begonnen wurde, einem lockeren Freundeskreis junger Stundenten verschiedener Fakultäten, die sich zum Teil bereits aus ihrer gemeinsamen Schulzeit kannten. Die Sammeltätigkeit erstreckte sich sowohl auf die Niederschrift mündlicher Sagentraditionen als auch auf die Abschrift von gedruckten Überlieferungen. Die jungen Forscher orientierten sich dabei an den Prinzipien, die die Brüder Grimm 1816 in ihrer Vorrede zu den „Deutschen Sagen“ dargelegt hatten, nämlich „Treue und Wahrheit“ sowie „Mannichfaltigkeit“ der Sammlung.[11]

Im 19. Jahrhundert versteht man unter Sage eine kurze Erzählung mit Wirklichkeitsanspruch, in der ein altes Wissensgut berichtet wird und die im Unterschied zum Märchen kein eigentliches Erzählkunstwerk sein will. Die Brüder Grimm und ihre Nachfolger im 19. Jahrhundert gingen von einem Begriff der „Naturpoesie“ aus, den sie von Herder übernahmen und in konservativer Weise auf ein ursprünglich naives Erzählgut verengten, das vom Volk mündlich geschaffen und tradiert und jeder intellektuellen Kunstpoesie vorgelagert sein soll. Sie behandelten Quellen anders, als es unseren heutigen Vorstellungen entspricht.[12] Ob es sich um eine literarisch gestaltete oder um eine bloß berichtende historische Darstellung handelt, bedeutet den Sammlern nicht viel, denn ihnen kam es nur auf den Inhalt, auf die Sagenstoffe an. Dabei verwendeten sie Quellen recht unterschiedlicher Qualität; zumeist waren dies Werke des 15. bis 17. Jahrhunderts, darunter Chroniken, Predigtsammlungen, topographische Werke, Kuriosenliteratur, gelehrte Schriften über Aberglaube, Historiographien, juristische Werke, Volksbücher sowie Anekdoten- und Schwanksammlungen aller Art, wodurch ein Problem der Authentizität vieler Sagensammlungen des 19. Jahrhunderts entsteht, das erst von der Sagenforschung des 20. Jahrhunderts problematisiert wurde.

Die Sagenmotive, die sich ihnen je nach Quelle in verschiedener Gestalt darboten, wurden von ihnen vereinheitlicht und nach Möglichkeit in einer „schlichten“ Form aufgezeichnet. Dabei konnten mehrere Berichte eines Motivkomplexes zu einer Erzählnummer zusammengefügt werden, wobei die sprachliche Gestaltung eine eigene Leistung des Sammlers darstellt. Noch wichtiger ist die in vielen Fällen erstmalige Herstellung eines Sagentextes, indem der Sammler aus einer Erzählung historischen oder kulturgeschichtlichen Inhalts das um ein Motiv herum gerankte Erzählgut herausfilterte und ihm eine stimmige sprachliche Form gab. Auf diese Weise sind eine Reihe von Sagen entstanden, die von den Sammlern und von ihren Lesern als „Volkssagen“ wahrgenommen wurden, obwohl sie gar nicht auf volksläufige Texte zurückgeführt werden können, sondern lediglich in Chroniken und ähnlichen Sammlungen überliefert wurden, die von gebildeten Autoren verfasst worden sind.

Der Anteil, den Storm zu Müllenhoffs Sammlung beigetragen hat, ist erheblich größer als bisher angenommen wurde; neuere Forschungen belegen, dass er es auch war, der einen Teil der nordfriesischen Chroniken ausgewertet und Sagen aus ihnen herausgeschrieben hat.[13] Für Storm bedeutete die Beschäftigung mit Märchen und Sagen seiner Heimat mehr als nur Interesse an der kulturellen Vergangenheit, wie es in den 1840er Jahren im Rahmen der nationalen Bewegung Mode wurde; der angehende Poet fand hier ein ergiebiges Übungsfeld für seine Schreibversuche. Sowohl seine frühen Gedichte als auch die ersten Prosaskizzen sind in Schreibprozessen entstanden, bei denen der Autor von vorgefundenem Material ausging, bekannte Formen nachahmte und Texte aller Art umformte. Anregungen dazu empfing er bereits während seiner Schulzeit; Rhetorik- und Stilübungen, die an Gelehrtenschulen des 19. Jahrhunderts ebenso zum Altsprachlichen Unterricht gehörten wie zur Unterweisung in der Muttersprache, hinterließen deutliche Spuren in Storms frühen Gedichten und in einer neu aufgefundenen Prosaarbeit.[14]

Es gibt einige Indizien, die darauf hinweisen, dass Storm unter anderen nordfriesischen Sagen auch die Rungholt-Sage aus einschlägigen Chroniken des 17. Jahrhunderts herauspräpariert hat. Neben verschiedenen Wochenblättern waren Chroniken eine der ergiebigsten Quellen für die Sagensammler. Storm hat 1843 in Husum vor allem die ihm zugänglichen Chroniken seiner Heimatstadt und der Umgebung ausgewertet, nämlich die „Husumischen Nachrichten“ von Laß[15] sowie die Chronik Heimreichs, die ihm sowohl in der zweiten Auflage von 1666 als auch in der Edition von Nikolaus Falck vorlag.[16] Aus einer Notiz des Volkskundlers Wilhelm Wisser geht hervor[17], dass Storm die Sage „Woher die großen Fluthen kommen“ aus diesem Buch herausgeschrieben hat.[18] Da sich Mommsen, Storm und Müllenhoff mit weiteren Mitarbeitern über die Auswertung von historischen Quellen mehrfach abgesprochen haben[19], kann angenommen werden, dass auch die weiteren Sagen, die Müllenhoff nach dieser Quelle druckte, unter Berücksichtigung der von Storm beigetragenen Exzerpte hergestellt wurden. Storm hat mehrere Jahrgänge des „Husumer Wochenblatt(s)“ durchgesehen und verfügte in Husum über die Chroniken seiner näheren Heimat. Solche Notizen haben auch in die von dem Friedrichstädter Rektor Karl Leonhard Biernatzki herausgegebenen „Volksbücher“ für die Jahre 1844 bis 1851 Eingang gefunden,[20] für die Storm der einzig mögliche Beiträger gewesen ist.[21] Insgesamt handelt es sich um zwölf Sagen, bei denen eine Mitarbeit Storms als wahrscheinlich gelten kann, neben „Woher die großen Fluthen kommen“ noch um folgende: „Die Wogenmänner“, „Rinder weisen die heilige Stätte“, „Hans Brüggemann“, „Pancratius halet sine Tüffelen wedder“, „Der Steinhügel bei Hedehusum“, „Helgoland“, „Rungholt“, „Die weise Frau Hertje“, „Die Heringe auf Helgoland“, „Vor dem jüngsten Gericht“ sowie „Die Silter Riesen“. Storms Vertrautheit mit den Chroniken der Landschaften Dithmarschen, Eiderstedt und Nordfriesland lässt sich bei vielen Novellenkonzepten bis hin zum „Schimmelreiter“ nachweisen und hat ihre Wurzeln bereits in seiner Husumer Schulzeit[22] und später in den Jahren des Sammelns von Sagen, Märchen und Gespenstergeschichten.

Der Anteil der so aus bereits veröffentlichten Texten heraus gelösten Sagen ist sehr groß; Müllenhoff gibt an, ca. 150 seiner mehr als 600 Sagen „zum Theil oder ganz gedruckten Quellen entnommen“ zu haben (S. 610); die Überprüfung nur einiger weniger Beispiele zeigt aber, dass es wesentlich mehr gewesen sein müssen. Ob gedruckte Quelle oder mündliche Tradition, eine Bearbeitung war in den meisten Fällen dringend erforderlich, nicht nur, weil es galt, schmückende Passagen aus novellenartigen Erzählungen zu streichen, sondern auch, weil bei älteren Erzählungen von Chronisten zu entscheiden war, was davon als Sage angesehen werden sollte und was nicht.

Im Briefwechsel zwischen Storm und Mommsen finden wir häufiger Hinweise auf den Prozess der „Purifikation“, mit der die einzelnen Sagen gereinigt, also bearbeitet wurden. Wir dürfen uns den Vorgang der Sammlung und Herausgabe von Sagen und anderen Texten nicht so vorstellen, dass die mündlichen oder schriftlichen Überlieferungen möglichst wortgetreu niedergeschrieben wurden; vielmehr glaubten sich Sammler und Herausgeber dazu verpflichtet, die Texte von Zusätzen oder Verfälschungen zu befreien, um so eine möglichst ursprüngliche und „reine“ Fassung zu erhalten. Das galt nicht nur für Sagen, die von den Sammlern in Gedichtform vorgefunden wurden, sondern auch für Prosatexte, die aus Chroniken, Sammlungen aller Art, gelehrten Abhandlungen oder aus Zeitschriften übernommen wurden. Man schrieb auch diese Texte nicht einfach ab, sondern bemühte sich, den für ursprünglich gehaltenen Kern herauszuarbeiten und in eine als angemessen empfundene sprachliche Fassung zu bringen. Die Eingriffe reichen von der Änderung von Sätzen und ganzen Satzperioden bis zur freien literarischen Nachbildung des Sagenkerns. Dabei wurden auch häufig plattdeutsche Elemente ins Hochdeutsche übertragen, manchmal hat Müllenhoff aber auch die niederdeutsche einer hochdeutschen Fassung vorgezogen, wenn ihm dies als Beleg für die regionale Tradition von Bedeutung erschien.

Die Rungholt-Sage, die wir in der von Müllenhoff herausgegebenen Sammlung finden, wurde aus Band 1 der von Nikolaus Falck besorgten Neuausgabe der Heimreich’schen Chronik Nordfrieslands herausgeschrieben[23], erfuhr dabei allerdings eine inhaltliche und sprachliche Neufassung, die als typisches Beispiel für den widersprüchlichen Prozess der „Purifikation“ solcher Geschichtssagen gelten kann. Die Methode der Herstellung des Sagentextes soll im Folgenden dokumentiert und erläutert werden. In einem dritten Teil wird danach gezeigt, wie die Rungholt-Sage von den Chronisten des 16. und 17. Jahrhunderts aus verschiedenen Teilen allmählich zusammengefügt wurde. Zum Schluss gebe ich einige Hinweise zu Literarisierung der Sage seit der Mitte des 19. Jahrhunderts.

 

 

II. Die Rungholt-Sage als literarisches Produkt des 19. Jahrhunderts

 

Bei Müllenhoff lesen wir die Sage in folgender Gestalt:

 

Rungholt

In Rungholt auf Nordstrand wohnten weiland reiche Leute; sie bauten große Deiche und wenn sie einmal darauf standen, sprachen sie: „Trotz nu, blanke Hans!“ –

Ihr Reichthum verleitete sie zu allerlei Uebermuth. Am Weihnachtsabend des Jahres 1300 machten in einem Wirthshause die Bauern eine Sau betrunken, setzten ihr eine Schlafmütze auf und legten sie ins Bett. Darauf ließen sie den Prediger ersuchen, er möchte ihrem Kranken das Abendmahl reichen und verschwuren sich dabei, daß wenn er ihren Willen nicht würde erfüllen, sie ihn in den Graben stoßen wollten. Wie aber der Prediger das heilige Sakrament nicht so gräulich wollte misbrauchen, besprachen sie sich unter einander ob man nicht halten sollte, was man geschworen. Als der Prediger daraus leichtlich merkte, daß sie nichts gutes mit ihm im Sinne hätten, machte er sich stillschweigends davon. Indem er aber wieder heim gehen wollte und ihn zween gottlose Buben, so im Kruge gesessen, sahen, beredeten sie sich, daß so er nicht zu ihnen hereingehen würde, sie ihm die Haut voll schlagen wollten. Sind darauf zu ihm hinausgegangen, haben ihn mit Gewalt ins Haus gezogen und gefragt, wo er gewesen. Und wie ers ihnen geklaget, wie man mit Gott und ihm geschimpfet habe, haben sie ihn gefragt, ob er das heilige Sakrament bei sich hätte, und ihn gebeten, daß er ihnen dasselbige zeigen möchte. Darauf hat er ihnen die Büchse gegeben, darin das Sakrament gewesen, welche sie voll Biers gegossen und gotteslästerlich gesprochen, daß so Gott darinnen sei, so müsse er auch mit ihnen saufen. Wie der Prediger auf sein freundliches Anhalten die Büchse wiederbekommen, ist er damit zur Kirche gegangen und hat Gott angerufen, daß er diese gottlosen Leute strafe. In der folgenden Nacht ward er gewarnet, daß er aus dem Lande, so Gott verderben wollte, gehen sollte; er stand auf und gieng davon. Und sogleich erhob sich ein ungestümer Wind und ein solches Wasser, daß es vier Ellen hoch über die Deiche stieg und das ganze Land Rungholt, der Flecken und sieben andre Kirchspiele dazu, untergieng, und niemand ist davon gekommen als der Prediger und zwo, oder wie andre setzen, seine Magd und drei Jungfrauen, die den Abend zuvor von Rungholt aus nach Bopschlut zur Kirchmeß gegangen waren, von welchen Bake Boisens Geschlecht auf Bopschlut entsprossen sein soll, dessen Nachkommen noch heute leben. Die Ulversbüller Kirche hat noch eine alte Kirchenthür von Rungholt.

Nun giebt es eine alte Prophezeiung, daß Rungholt vor dem jüngsten Tage wieder aufstehn und zu vorigem Stande kommen wird. Denn der Ort und das Land steht mit allen Häusern ganz am Grunde des Wassers und seine Thürme und Mühlen thun sich oft bei hellem Wetter hervor und sind klar zu sehen. Von Vorüberfahrenden wird Glockenklang und dergleichen gehört. – Imgleichen wird bei der Süderog am Hamburger Sand ein Ort gezeigt, welcher Süntkalf geheißen und es ist ein Sprichwort:

     Wenn upstaen wert Süntkalf,
     So werd Strand sinken half. [24]

 

Die Sage wurde von Müllenhoff unter Verwendung eines Exzerpts, das Theodor Storm aus Heimreichs Chronik herausgeschrieben hatte, und eines Manuskripts des Sylter Lehrers C. P. Hansen[25] aus drei Teilen komponiert. Als Quelle verwendete Storm dabei nicht die in seiner Bibliothek ebenfalls enthaltene zweite Auflage (1668), sondern die von Nikolaus Falck herausgegebene Ausgabe aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Welche Auflage Hansen verwendet hat, lässt sich nicht klären. Der Text wurde aus mehreren Teilen zusammengesetzt, die aus drei verschiedenen Abschnitten der Chronik Heimreichs entnommen sind. Die Sage in der Fassung bei Müllenhoff besteht aus einer Einleitung mit Orts- und Zeitangaben, der eigentlichen Sage sowie einem Anhang. Die Themen dieser Untergangssage sind Frevel und Strafe, die den eigentlichen Gehalt bilden. Der Sagenkern besteht aus drei Teilen; die beiden ersten erzählen von einem Sakrileg, das Bauern an einem Pastor und an dessen Gerät für das Abendmahl begehen, der dritte berichtet von der Strafe Gottes, die nach der Beschwerde des Geistlichen diesem vorher angekündigt wird, so dass er fliehen und sich retten kann. Es handelt sich also um die Motive Hochmut und Hostienfrevel, Untergang und Rettung eines Frommen. Der Anhang erzählt von weiteren Geretteten, die sich zum Zeitpunkt der Lästerung in einer anderen Kirche befunden haben, und dokumentiert die Genealogie dieser „Gerechten“. Außerdem wird eine Prophezeiung erwähnt, nach der Rungholt auferstehen werde, und es werden Beobachtungen aufgelistet, die vom gelegentlichen Erscheinen der unversehrten Stadt und vom Glockenklang berichten. Bei diesen weiteren Motiven handelt es sich – wie weiter unten noch dargestellt wird – um Übertragungen aus einer anderen historischen Sage, der Sage vom Untergang Vinetas. Alle diese Teile finden sich auch in den Quellen wieder und ermöglichen im Vergleich eine Rekonstruktion der Entstehung des Textes.

Der erste Teil mit dem Ausspruch „Trutz blanke Hans!“ wird vom Deichgrafen in Risummohr überliefert, der ihn in trotziger Vermessenheit nach Vollendung des dortigen neuen Deichs und unmittelbar vor der großen Sturmflut von 1634 ausgerufen haben soll. Der zweite Teil besteht aus einer Zusammenfassung der eigentlichen Rungholt-Sage, die auf eine Erinnerung an den Untergang des historischen Rungholt bei der großen Sturmflut von 1362 zurückgeht und die von verschiedenen Chronisten im 16. und 17. Jahrhundert allmählich geformt wurde. Der Schlussteil schließlich fügt eine andere Sage hinzu, die der Bearbeiter Müllenhoff in Zusammenhang mit einer im 13. Jahrhundert in der Nähe von Rungholt untergegangenen Kirche bringt.

Es folgt der Wortlaut der Sage in der Reihenfolge, wie sie die Sammler bei dem Pastor von Nordstrandischmoor, Anton Heimreich (1626-1685), gedruckt vorgefunden haben.[26]

 

Anton Heimreich (1668)

(1)

A. C. 1300 am Tage Marcelli Pontificis (ist der 16. Jan.) hat sich die Westsee durch Sturmwinde erhoben, und das Wasser vier Ellen über die höchsten Deiche geführet, Städte und Dörfer umgekehret, und den Flecken Rungholt neben sieben Kirchspielkirchen in Edomsharde verwüstet, andere mehr anjetzo zu geschweigen, und seyn dazumal 7600 Menschen ertrunken, und 21 Wehlen im Nordstrande eingerissen. […]

Unter allen diesen ertrunkenen Oertern ist insonderheit benamet der Flecken Rungholt, von dessen Verwüstung und Untergang, wie auch künftigen Wohlstande der gemeine Mann beides in vorigen und auch noch in jetzigen Zeiten viel Wunderdinges erzählet. Inmaßen man berichtet, daß auf eine Zeit etliche muthwillige Gäste eine Sau, mit Urlaub, sollen trunken gemachet und zu Bette geleget haben, und darauf den Prediger lassen ersuchen, er möchte ihrem Kranken das Abendmahl reichen, und sich dabey verschworen, daß, wenn er bey seiner Ankunft ihren Willen nicht würde erfüllen, sie ihn in den Graben stoßen wollten. Wie aber der Prediger das H. Sacrament nicht so gräulich wollen mißbrauchen, und sie sich unter einander besprochen: ob man nicht sollte halten, was man geschworen? Und der Prediger daraus leichtlich gemerket, daß sie nichts Gutes mit ihm im Sinne hätten, hat er sich stillschweigens davon gemacht. Indem er aber wieder heim gehen wollen, und ihn zwo gottlose Buben, so im Kruge gesessen, gesehen, haben sie sich beredet, daß so er nicht zu ihnen herein gehen würde, sie ihm die Haut wollten voll schlagen. Seyn darauf zu ihm hinaus gegangen, haben ihn mit Gewalt ins Haus gezogen, und gefraget wo er gewesen? Und wie ers ihnen geklaget, wie man mit Gott und ihm habe geschimpfet, haben sie ihn gefraget, ob er das H. Sacrament bey sich hätte? und ihn gebeten, daß er ihnen dasselbe möchte zeigen. Darauf er ihnen die Büchse gegeben, darin das Sacrament gewesen, welche sie voll Biers gegossen, und gotteslästerlich gesprochen, daß so Gott darinnen sey, so müsse er auch mit ihnen saufen, und wie der Prediger auf sein freundliches Anhalten die Büchse wieder bekommen, sey er damit zur Kirche gegangen, und habe Gott angerufen, daß er diese gottlosen Leute wolle strafen. Darauf er in der folgenden Nacht sey gewarnet worden, daß er aus dem Lande, so Gott verderben wollte, sollte gehen, sey auch aufgestanden und davongegangen, und habe sich also bald ein ungestümer Wind und hohes Wasser erhoben, dadurch das ganze Land Rungholt (oder wie andere melden, ganze sieben Kirchspiele, worunter Rungholt das vornehmste gewesen) sey untergegangen, und niemand davon gekommen, als gemeldeter Prediger und zwo (oder, wie andere setzen, seine Magd und drei) Jungfrauen, so den Abend zuvor von Rungholt aus auf Bopschlut zur Kirchmeß seyn gegangen, von welchen Backe Boisens Geschlecht zu Bopschlut soll entsprossen seyn, dessen Nachkommen theils noch jetziger Zeit in diesem Lande seyn vorhanden und verhält sich ihre Genealogie folgendernmaßen: [...].

Sonsten stehen die alten abergläubischen Leute im Wahn, daß dieses Rungholt noch einmal wieder werde aufstehen, und vor dem jüngsten Tage zu vorigem Stande kommen, melden auch, daß diese Stadt mit allen Häusern ganz in der Erde stehe, und dessen Thurm und Mühlen (desgleichen man auch von Kirchspiel Alver oder Kalfer an der Süderog und andern untergesunkenen Oertern und Städten berichtet) sich öftermals bey hellem Wetter hervor thue, und klar sehen lasse, und daß auch von den vorüberfahrenden der Glockenklang und dergleichen noch jetzunder gehöret werde, doch wird dieses von andern entweder für einen alten Weibertraum oder auch für eine zur Bestätigung des Aberglaubens erdichtete Fabel gehalten. Und ist derselben Meinung der Wahrheit ähnlicher, welche erachten, daß dieser Flecken neben den umliegenden Kirchspielen durch eine hohe Fluth, nach Art dieser niedrigen Länder, sey überschwemmet, habe äußerste Noth gelitten, sey aus dem Deichbande geworfen, und also endlich zu salzen See geworden.

(2)

Und erachte ich, daß dieselbe Kirche bey der Süderog am Hamburger Sande wird gelegen haben, maaßen man daselbst noch einen Ort zeiget, welcher Süntkalff wird geheißen, und von welchem ein Sprichwort ist: Wenn upstahn wert Suntkalff, so wert Strand sinken halff! wiewol dieses, leider! erfolget, und jenes hinterblieben.

(3)

[...] wie der Deichgraf in Risummohr nach verfertigtem Deiche den Spaten auf den Deich gesetzet, und vermessentlich gesaget: Trotz nun blanke Hans! [27]

 

Die Sage beginnt bei Müllenhoff mit einem einprägsamen poetischen Landschaftsbild und mit dem Zitat „Trotz nu, blanke Hans!“ Die Bewohner Rungholts werden als stolz und überheblich charakterisiert. Als Datum wird der Weihnachtsabend des Jahres 1300 genannt.

Der erste Satz des zweiten Abschnitts „Ihr Reichthum verleitete sie zu allerlei Uebermuth“ stellt eine Deutung der Sage dar, die nicht in der Quelle enthalten ist, die aber gut zum Motiv der Hybris und ihrer Bestrafung passt. Müllenhoff stand bei der Textredaktion auch ein Sagenmanuskript von C. P. Hansen zur Verfügung, aus dem er einen Teil des VII. Kapitels („Sagen von Verwünschungen und sogenannten Wundern“) verwendete. Dieses Manuskript hatte Hansen im März des Jahres 1844 zunächst an Storm nach Husum geschickt, der die Handschrift erst im November an Müllenhoff in Kiel weiterleitete. Dort hat die Sage als „7. Stück“ folgende Gestalt:

 

C. P. Hansen (1843)

Von dem Untergange des Fleckens Rungholt auf Nordstrand.

In Rungholt auf der Insel Nordstrand wohnten weiland reiche Leute, sie bauten Deiche und sprachen mit Hohn auf diesen stehend: „Trotz nu blanke Hans!“ – Ihr Reichthum verleitete sie zum Stolz und zum Saufen und Spielen. Eines Abends, nämlich am Weihnachtsabend (1300) saßen mehrere Bauern in einem Wirthshause zu trinken und zu spielen. Plötzlich kam es ihnen in den Kopf, eine Sau betrunken zu machen, in ein Bett zu bringen, ihr eine Schlafmütze aufzusetzen und dann hinzuschicken nach dem Prediger mit der Bitte, er müsse kommen und einem Kranken das Abendmahl geben. Dieses wurde ausgeführt. Der Prediger, kein Böses ahnend, kam, segnete das Brod und den Wein ein und fing an zu predigen. Jedoch, als er den Betrug merkte, hielt er inne; die Bauern aber hatten geschworen, ihn dazu zu zwingen, droheten daher ihn zu tödten, wenn er sich weigerte. Darauf rissen sie ihm den Kelch aus der Hand, gossen ihn voll Biers und sprachen, wenn Gott darinnen wäre, sollte er mit ihnen saufen. Der Prediger floh aber in die Kirche und betete zu Gott, daß er diese bösen Leute doch strafen wolle. Darauf ging er nebst seiner Magd nach Bopschlut, wohin auch zwei andere Mädchen schon an dem vorigen Tage gegangen waren. In derselben Nacht nun ereilte jene gottlosen Menschen die Strafe Gottes; denn das ganze Rungholt nebst sieben andern Dörfern ging durch eine Fluth, welche 4 Ellen über die höchsten Deiche der Insel stieg, unter. – Die vorübersegelnden Schiffer wähnen freilich noch oftmals den Glockenklang der versunkenen Kirche des Ortes tief unten im Meere zu hören; und eine Prophezeiung sagt, es werde das alte Rungholt dereinst wieder auferstehen; allein Rungholt, dieß neue Sodom, wird zur Warnung für alle Säufer, Spieler und Gotteslästerer im Meere wohl begraben bleiben bis zum jüngsten Tage. [28]

 

In seiner Zusammenstellung hat der Herausgeber aber nur den ersten Teil als Einleitung übernommen; im Weiteren folgt er nicht Hansens Manuskript, sondern einem Exzerpt, das – wie oben gezeigt – Storm aus der von Falck edierten Chronik Heimreichs herausgeschrieben hat. Mit der Quellenangabe „Erzählt von einem Schüler der Keitumer Schule“ will Hansen die Fiktion einer mündlichen Tradition untermauern; er hat hier aber, wie auch andere Sagen seines Manuskripts belegen, ebenfalls auf die Chronik von Heimreich zurückgegriffen. Darüber hinaus benutzte Hansen auch die bei Johann Friedrich Camerer gedruckte „historische Beschreibung der Insel Nordstrand, bis auf das Jahr 1624“ von Jonas Hoyer. Dies geht aus einer zweiten Fassung der Sage hervor, die sich in einem weiteren Manuskript findet, das Hansen im Herbst 1844 direkt an Müllenhoff geschickt hat:

 

Alsbald ist er aufgestanden und in das nächste Karspel gegangen, und gleich darauf ist ein so erschrecklich Erdbeben und gräulich Wetter erfolget, daß die obgedachten Länder ganz umgekommen, und versunken sind, auch nicht mehr als der Prediger und vier Jungfrauen, eines reichen Mannes Töchter zu Rungholt, die den Tag zuvor nach Bupsluth zur Karkenmesse gegangen, davon gekommen sind. Von den Frauenspersonen ist noch heute zu Tage ein Geschlecht übrig, nämlich Banke Boisen und seine Erben zu Bupsluth.[29]

 

Die Jahreszahl 1300 fand Hansen in einer Sammlung von historischen Nachrichten an anderer Stelle bei Johann Friedrich Camerer, wo es heißt:

 

Anno 1300. soll die überaus hohe Fluth über diese Marschländer ergangen seyn, welche unter vielen andern Dörfern und Orten, auch die Stadt Runghold, so in dem Nordstrande belegen gewesen, verwüstet, hat vielleicht auch die Mildesbourg hinweggerissen, denn sie zu König Abels Zeit Anno 1252. noch gestanden.[30]

 

Der anonyme Verfasser zitiert aus Danckwerths „Neuer Landesbeschreibung“ aus dem Jahre 1652; möglicherweise hat Hansen aber auch Danckwerths Chronik im Original gelesen.[31] Die Zeitangabe 1300 lesen wir auch bei Heimreich, der sie direkt von Danckwerth übernommen hat.

Diesem aus heutiger Sicht falschen Datum, das wohl bloß für das 14. Jahrhundert allgemein steht, hat Hansen als Zeitangabe den Weihnachtsabend hinzugefügt, um die Ungeheuerlichkeit der Blasphemie durch die Wahl des heiligsten der Tage zu betonen. Auch der Satz „setzten ihr eine Schlafmütze auf“ erweist sich als typischer Erzählzierrat des 19. Jahrhunderts. Die Zeitangaben in den alten Chroniken sind ungenau; man nahm zuerst an, Rungholt sei um 1200 untergegangen, korrigierte dann aber zu 1300.[32] So findet sich in einer Notiz des 1634 gestorbenen Evesbüller Pastors Knut Lorenzen noch der Hinweis: „Anno 1200 iß Rungeholt vergahn, doch sind 4 Jungfruen to Kerkmis im Strande gewesen, de allene men avergeblefen.“[33]

Neben der nordfriesischen Chronik von Heimreich und den Texten bei Camerer stand Müllenhoff auch noch Westphalens „Monumenta inedita“ zur Verfügung, in deren 2. Band ein 1657 gedruckter Bericht des Pastors Matthias Pampus mit dem Titel „Beschreibung von Eyderstett“ enthalten ist.[34] Dort konnte Müllenhoff die korrigierte Zeitangabe „A. C. 1300“ in Verbindung mit einer Nachricht über „eine grausame Wasserfluth […]“ lesen, „in welcher Rungholt vergehet, in Abgrund sincket, viele Menschen und Viehe samt sieben Kirchspiel verderben“.

Der zweite Teil gibt eine Zusammenfassung der eigentlichen Rungholt-Sage, wie sie aus der Erinnerung an den Untergang des historischen Ortes bei der großen Sturmflut von 1362 (der so genannten Mandränke) von verschiedenen Chronisten Nordfrieslands aufgezeichnet, aus weiteren Sagenelementen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts allmählich zusammengesetzt und mit der Genealogie der Familien Mumsen und Boysen verbunden wurde.[35] Die bei Heimreich enthaltene genealogische Tafel hat Müllenhoff weggelassen. Der Schlussteil überträgt die Sage von einer im 13. Jahrhundert in der Nähe untergegangenen Kirche auf Rungholt.

Der redaktionelle Bearbeiter übernimmt den zentralen Erzählteil der Sage bei Heimreich fast in allen Einzelheiten: Reiche Bauern machen eine Sau trunken und legen sie in ein Bett; sie wollen den Pfarrer zwingen, dem Tier das Abendmahl zu reichen; sie verschwören sich, ihn zu töten, falls er sich weigert; der Pfarrer läuft fort, wird aber von zwei anderen Bauern gezwungen, ihnen das Sakrament zu geben, das sie schänden; in der Kirche ruft er Gott an, die Frevler zu bestrafen; in der Nacht (im Traum) wird er gewarnt; er flieht mit zwei oder drei Jungfrauen; eine hohe Flut vernichtet Rungholt mit sieben Kirchspielen.

Der Text wird sprachlich modernisiert, enthält aber einige altertümliche Wendungen wie „geklaget“, „geschimpfet“, „voll Biers“, „ward er gewarnet“ und „zwo“, die den Chronikcharakter betonen sollen. Der zweite Teil berichtet von einer „alte(n) Prophezeiung“, nach der Rungholt noch vor dem Jüngsten Tag auferstehen wird. Die Leute glauben, dass der Ort und das Land unversehrt am Grunde des Meeres stehen; es wird erzählt, man könne bei hellem Wetter die Häuser sehen und beim Vorüberfahren die Glocken hören. Diese Prophezeiung stimmt im Wortsinn mit der Quelle überein, wird vom Chronisten allerdings als unglaubwürdig dargestellt („Sonsten stehen die alten abergläubischen Leute im Wahn“, „für eine zur Bestätigung des Aberglaubens erdichtete Fabel“). Dies ist eine typische Relativierung von spukhaften und gespenstischen Elementen der Sagen, von denen sich die rationalen Chronisten des 17. Jahrhunderts ausdrücklich distanziert haben. Solche Distanzierungen sind ein Charakteristikum der Sagentexte in vielen Chroniken; sie wurden von den Sammlern des 19. Jahrhunderts in der Regel nicht in ihre Textfassungen übernommen, um den Sagen historische Glaubwürdigkeit zu verleihen.

In diesem Zusammenhang wurde auch die Beschreibung der Flut von 1362 fortgelassen, die der Chronist ausdrücklich als „Wahrheit“ bezeichnet[36]: „welche erachten, daß dieser Flecken neben den umliegenden Kirchspielen durch eine hohe Fluth, nach Art dieser niedrigen Länder, sey überschwemmet, habe äußerste Noth gelitten, sey aus dem Deichbande geworfen, und also endlich zu salzen See geworden.“ Sie wurde von Müllenhoff durch die allgemeine Formulierung „Und sogleich erhob sich ein ungestümer Wind und ein solches Wasser, daß es vier Ellen hoch über die Deiche stieg“ ersetzt. Diese Angabe findet sich ebenfalls bei Heimreich. Die Sage wird insgesamt um ca. 30% gekürzt; die zentrale Erzählung nur um 10% des Wortmaterials. Zu den gestrichenen Elementen zählt die ausführliche Beschreibung der Zukunft des Predigers am Ende des ersten Abschnitts, an die sich die ebenfalls fortgelassene Geschlechtertafel anschließt. Neben dem Schlussabschnitt über Süntkalf ist in die Sage noch ein Hinweis auf die Kirchentür in der Ulvesbüller Kirche enthalten. Solche Ergänzungen findet man auch in anderen Sagen der Sammlung Müllenhoffs, manchmal in den Anmerkungen.

Der Bearbeiter hat das Chronikmaterial aus dem 17. Jahrhundert in eine geschlossene Erzählung umgeformt; genau dies haben er und andere Sammler des 19. Jahrhunderts angestrebt, wenn sie von „Purifizierung“ sprachen. Eigentlich hätte Müllenhoff auf Hansens Fassung der Sage verzichten müssen, da dieser seine Texte häufig bearbeitet hat und – vor allem in seinen Veröffentlichungen im „Husumer Wochenblatt“ – zur epischen Ausschmückung von Sagen neigt, was von den Sammlern in ihren Korrespondenzen mehrfach gerügt wurde. Gerade die Ausschmückungen Hansens, die er im Falle „Rungholt“ dem Stoff seiner Quellen hinzugefügt hat, widersprechen den Prinzipien, die Storm, Mommsen und Müllenhoff in ihrer gemeinsamen Arbeitsphase formuliert und teilweise auch bei der Herstellung von Sagentexten angewendet haben.

Allerdings sind ihre eigenen Eingriffe in das aus Chroniken heraus gelöste Sagenmaterial weitaus bedeutender, als es Volkskundler und Literaturwissenschaftler früher angenommen haben. Die Rungholt-Sage ist – wie viele andere historische Sagen aus Nordfriesland – keine „Emanation des ganzen Volks- und Heimathgeistes“, wie es Storm gegenüber Mommsen einmal formuliert hat (Brief vom 13. Februar 1843). Sie ist bereits in ihrem überlieferten Kern eine literarische Konstruktion und stammt aus den Federn gebildeter Chronisten des 17. Jahrhunderts. Die Sammler haben zweihundert Jahre später mit ihrer Editionstätigkeit nicht bloß eine neue Literaturgattung popularisiert, sie haben einen Großteil der Sagentexte trotz gegenteiliger Bekundungen nach eigenem Gutdünken aus vorgefundenem heterogenen sprachlichen Material konstituiert, so dass man ebenso wie bei den so genannten „volksläufigen“ Märchen auch bei den Sagen von einer neuen literarischen Gattung sprechen kann, die es ohne ihre Sammel- und Editionstätigkeit in dieser Form nicht gäbe.

 

 

III. Die Formung der Sage durch die Chronisten des 16. und 17. Jahrhunderts

 

Die Rungholt-Sage selber ist in der Gestalt, wie wir sie seit 1666 bei Heimreich lesen können, das Ergebnis eines längeren Entstehungsprozesses, bei dem die ungenaue Erinnerung an den Untergang des „Fleckens“ Rungholt im 14. Jahrhundert mit moralischen Elementen ausgeschmückt und allmählich zu der Kernerzählung von der Freveltat übermütiger Friesen entfaltet wurde, deren Wohnplätze wegen ihrer Hybris durch göttliches Strafgericht untergegangen sind.

Zunächst wissen die Chronisten wenig über das, was sich bei einer großen Sturmflut um einen Ort namens Rungholt herum ereignet hat, selbst über das Datum herrscht Unklarheit. Nach dem Stand unseres heutigen Wissens zerstörte am 16. Januar 1362 ein Orkan mehrere Köge vor der jetzigen Küstenlinie zwischen Eiderstedt und Niebüll, darunter einen Flecken namens Rungholt.[37]

1652 erschien in Schleswig die berühmte „Landesbeschreibung Der zwey Hertzogthümer Schleswich und Holstein […]“ von Caspar Danckwerth. In ihr ist eine „Landtcarte Von dem Alten Nortfrieslande […] Anno 1240“ enthalten, die der Husumer Kartograph Johannes Mejer gezeichnet hat. Dargestellt sind die Harden der alten Utlande, darunter die „Edomsharde“ am Nordufer des Heverstroms, der von Husum aus in westlicher Richtung in die freie Nordsee führt. Grundlage für diese Karte sind Verzeichnisse von untergegangenen Kirchen, die zu verschiedenen Zeiten verloren gingen. Der Kartograph erweckt den Eindruck, als seien die genannten Orte zum selben Zeitpunkt versunken. Außerdem stammen manche Namenseinträge aus fehlerhaften Quellen oder sind nur Fantasieprodukte. Diese Karte gibt die geographische Lage des historischen Rungholts nicht genau wieder.

Erst spätere Forschungen haben zu dem Ergebnis geführt, dass Rungholt im 14. Jahrhundert Hauptort der Edomsharde auf der Insel Strand gewesen ist. Der Name „Rungholt“ ist in einem Dokument des Hamburger Staatsarchivs von 1345 bezeugt.[38] Außerdem wird in einem Register des Schleswiger Domkapitels Rungholt als Kirche „cum collegio“ erwähnt. Dies kann man als Hinweis nehmen, dass dort mehrere Geistliche wirkten und dass die Kirche zu Rungholt eine herausgehobene Bedeutung für die Umgebung besaß.

Damit ist die Existenz des Fleckens Rungholt zwar belegt, wir wissen aber nichts Genaues über den geographischen Ort, auch nicht über die Größe und Bedeutung der Siedlung. Die Quellen berichten von einer „Groten Mandränke“, einer Sturmflut, die den Bereich des alten Strandes überflutet hat, und wobei viele tausend Menschen umgekommen sind. Die älteste Chronik von der Westküste Schleswig-Holsteins ist das „Chronikon Eiderostadense vulgare“ oder die gemeine Eiderstedtische Chronik. Sie geht auf Aufzeichnungen zurück, die nach 1461 von den Brüdern Dirck Scriver (gest. 1462) und/oder Wenni Sywens (gest. 1487) angefertigt wurden. Diese haben 1491 der Priester zu Oldenswort, Jasper Walstrop, und andere bis 1620 fortgeführt. Die beiden erwähnten Fluten von 1216 und 1362 wurden erst von späteren Berichterstattern mit der Sage vom Untergang Rungholts in Verbindung gebracht. Von den Motiven der Rungholt-Sage wussten die Chronisten bis 1460 noch nichts, wie der nüchterne Bericht in der Eiderstädtischen Chronik ausweist:

 

Chronikon Eiderostadense vulgare (vor 1500)

(1)

Anno 1216 do was so groth waterfloet, dat alle de lande inbreken, unde drenkeden wul XXX. dusent seshundert minschen in düsse Nedderlande.

 

1216 ereignete sich eine so große Sturmflut, daß das Wasser in alle Lande einbrach und wohl 30 600 Menschen in diesen tiefgelegenen Ländereien ertranken.

 

(2)

Anno 1362 in der lateren twölf nachten tho Middernacht do ginck de aldergrötheste Mandrenke. Do vordrenkede dat meiste volck uth den Uthlanden.

 

1362 nach den 12 Nächten nach Mitternacht ereignete sich die allergrößte Mandrenke. Damals ertranken die meisten Menschen aus den Uthlanden.[39]

 

 

Bereits 1634 war dem Schleswiger Chronisten Johann Adolph Cypraeus bekannt, dass „Rungeholt“ einer jener Orte auf der Insel Strand gewesen ist, die von „De grote Mandranck“ im Jahre 1362 verschlungen wurde.[40] Man nimmt an, dass Rungholt dort gelegen hat, wo sich heute die Hallig Südfall befindet. Es muss sich um eine bedeutende Siedlung mit einer Kirche und zwischen 500 bis 800 oder vielleicht auch 1000 Bewohnern gehandelt haben, um einen zentralen Hafenort, an dem größere Mengen Vieh und Salz für den Export verladen werden konnten und der wirtschaftlicher Mittelpunkt der Utlande, also der Bereiche westlich der niederen Geest des heutigen Landkreises Nordfriesland, gewesen ist.

Ein historisches Ereignis, von dem man nur eine vage Vorstellung hat, macht noch keine Sage aus. Hierzu musste man einen Bericht von einem übernatürlichen Erlebnis oder eine Fabel von einem nicht glaubhaften Element haben. Die moderne Sagenforschung geht davon aus[41], dass eine Sage eine mimetische Form des Erzählens ist, die den Anschein erwecken will, die berichteten Ereignisse hätten wirklich stattgefunden. Sie behandelt das Verhältnis des Menschen zur Natur, zur Geschichte und zu übernatürlichen Mächten. Dabei wird das Zusammentreffen von realer und transzendenter Welt nicht wie im Märchen als etwas Selbstverständliches erfahren, sondern in bedrohender Weise erlebt und dargestellt. Beide Elemente fanden die studierten und belesenen Chronisten in der verbreiteten Literatur ihrer Zeit. Zusammen mit dem historischen Ort und einer begründeten Zeitangabe konnte die Erzählung vom Untergang Rungholts nun einen Realitätsanspruch erheben, der über dem des Märchens liegt.

Das Hauptmotiv des Hostienfrevels, das auf die Zeit vor der Reformation verweist, konnten die gelehrten Chronisten des 16. und 17. Jahrhunderts bei Caesarius von Heisterbach lesen, einem theologischen Schriftsteller und Chronisten aus dem Rheinland (geboren um 1180 in oder bei Köln, gestorben 1240 in Heisterbach bei Königswinter), der lehrhafte Geschichten veröffentlichte. Diese Erzählung ist um 1220 entstanden und stellt die älteste Quelle für die mit der Rungholt-Sage verbundene Sakrileg-Erwähnung dar.[42]

 

Caesarius von Heisterbach (um 1220): Über das Verderben Frieslands wegen der Untat am Leibe des Herrn

Kurze Zeit danach, nämlich im Jahre der Gnade 1218, ist das Meer in Teilen Frieslands über seine Ufer getreten und hat die Fläche vieler Landschaften überschwemmt, Ortschaften verwüstet, steinerne Kirchen umgeworfen und eine solche Menge an Menschen umgebracht, dass die Gesamtzahl hunderttausend überstieg. Die Fluten sind so gestiegen, dass sie alles offensichtlich in Turmeshöhe bedeckte und mit einer völligen Überflutung der Lande drohte. Und so hat man unserem Abt gesagt, als er in demselben Jahr zu einer Visitation nach Friesland kam, dass die wilden Fluten noch bis nach Köln kämen, wenn nicht der, der sie hervorgerufen hätte, seine Erzeugerin so, wie ihm noch gesagt würde, mit Gebeten beschwichtigen würde. Novize: Kennst du die Ursache des Unheils? Mönch: Ja. Ein boxwütiger Friese ist in jenem Land aufgetreten, der jedesmal, wenn er besoffen nach dem Kneipenbesuch nach Hause kam, seine Frau mit Schlägen und weiteren Übergriffen reichlich traktierte. Diese hat sich einmal aus Angst vor ihrem Mann krank gestellt und, damit man die Verstellung nicht bemerken konnte, gebeten, dass ihr der Leib des Herrn gereicht würde. Als der Priester nahte, kam der Boxertyp ihm mit einem Bierhumpen entgegen, und bedrängte ihn, auch zu saufen. Als der dann antwortete: Ich trage den Leib des Herrn, ich trinke nicht, hat der Friese zornentbrannt mit dem Humpen die Hostienkapsel zerschlagen und die Hostien dabei so heraus geschleudert, dass sie überall auf dem Boden lagen. Die älteren Frauen aber, die um Trost zu spenden dahin gekommen waren, sahen über jeder Hostie etwas wie funkende Sterne. Der Priester bejammerte die Hostien, sammelte sie wieder in die Kapsel und ging weg. Der Friese wurde vor den Amtmann der Landschaft geladen und exkommuniziert, kümmerte sich aber nicht darum. Doch schließlich fühlte er sich veranlasst, mit dem Kreuzeszeichen wegen eines so ruchlosen Sakrilegs zusammen mit besagtem Priester, der auch das Kreuzeszeichen trug, nach Rom zu wallfahren. Als er vor dem Papst Honorius seine Schuld bekannte, trug der ihm als Strafe auf, er solle das Meer überqueren und drei Jahre im Kreuzfahrerheer dienen. Was weiter? Beide fuhren über das Meer, sind aber noch vor Dalmatien gestorben. [43]

 

Wir finden hier die frühste Erwähnung eines Hostienfrevels, der in einen Zusammenhang mit einem göttlichen Strafgericht gebracht wird, das in Friesland bei einer verheerenden Sturmflut zu einer Katastrophe geführt haben soll. Auf Caesarius von Heisterbach verweist Anton Heimreich[44] im sechsten Kapitel seiner Chronik „Vom ersten Zustande diese Nord Freßlandes“, wo er über eine große Flutkatastrophe schreibt: „[…] nachdem A. C. 720 schier ganz Fresland untergangen und in demselben bei 100 000 Menschen seyn ertrunken, wegen dem Schimpf, so dem heil. Sacrament von einem Fechter soll angethan seyn.“ Dies könnte sich auf jene Stelle bei Caesarius beziehen, wo dieser in seinem „Exemplum“ (einer beispielhaften Geschichte) „De plaga Frisiae ob iniuriam Dominici corporis“ (Über das Verderben Frieslands wegen der Untat am Leibe des Herrn) erzählt und den Frevler als „arte pugil“ bezeichnet, was man mit Faustkämpfer oder Boxer, aber auch mit Fechter übersetzen kann. Die Erzählung lieferte ein geeignetes Motiv, das mit einer der größten Naturkatastrophen an der Nordsee in Verbindung gebracht werden konnte und das die protestantischen Chronisten mit weiteren Motiven aus erbaulichen Schriften des 16. Jahrhunderts ergänzt haben.[45]

Eines dieser Motive stammt aus Marienburg in Ostpreußen, wo erstmals im späten 14. Jahrhundert die Geschichte der trunkenen Sau und der Verhöhnung eines Priesters erzählt wurde:

 

Buttermilchturm der Marienburg (vor 1500)

Man zeiget in dem Schloß den sogenannten Buttermilchs-Thurm, zu welchem der Kalch stat des Wassers mit Buttermilch eingemachet seyn soll, und behauptet man, daß die Bauern in dem Dorfe Groß-Lichtenau solchen vor alten Zeiten zur Strafe ihrer Leichtfertigkeit haben aufführen müssen, weil selbige eine alte Saue in das Bette geleget, und unter dem Vorwand eines gefährlichen Patienten, den Pfarrer des Dorffes, um die letzte Oelung demselben zu reichen, gerufen haben. [46]

 

Samuel Meigerius (1532-1610), Pastor in Nortorf, der Bruder des Husumer Kartographen Johannes Mejer, veröffentlichte 1587 in seinem Buch „De panvrgia lamiarvm, sagarum“ folgenden Bericht, der wohl die Urfassung aller späteren Rungholt-Sagen darstellt. Meigerius hat in seiner Sammlung von allerlei Zauberei- und Hexengeschichten die beiden Motive des Hostienfrevels und des Untergangs als erster zu einem Ganzen verbunden:

 

Samuel Meigerius (1587)

Ich will eine bemerkenswerte Geschichte hierher setzen, in der Gott der Herr die Verächter seines Wortes und seiner Diener gestraft hat, die sich etwa zu Beginn der Verbreitung der lutherischen evangelischen Wahrheit im Land an der Küste zugetragen hat. Ein reicher Trunkenbold und übermütiger Mann hat zur Abenddämmerung einen Prediger holen lassen, um einem Kranken im Hause beizustehen. Bevor der Prediger ankam, ließ er eine Sau ins Bett legen und zeigte sie dem Prediger, als er kam. Der ging hin, glaubte, es sei ein Kranker da, stellte seine Gerätschaften bereit, und als er hinsieht, liegt da eine Sau im Bett. Nun ging er ungeduldig weg, übertrug die Schande und den Beweis des Übermuts auf jenen, den es anging. So wie Mose zu seinen halsstarrigen Juden sprach: Was sind wir? Ihr murrt nicht wider uns, sondern wider den Herrn. So ist es auch hier geschehen. Der Prediger wusste sich meisterhaft an seinen Feinden und Verächtern zu rächen und es sind nicht allein diese Spötter des göttlichen Testaments, sondern ein ganzes Stück Land durch eine Flut untergegangen, und Schuldige wie Unschuldige mussten dafür herhalten. An diesem Ort, wo es Brot in Fülle und Überfluss an allen Dingen gegeben habe, was immer ein Anreiz zur Verachtung Gottes und seines heiligen Wortes ist, hat es neben Gläubigen auch gleichviele Spötter gegeben. Noch heute kann man die Ruinen der Kirchen und die Vorländer der Hofstätten sehen, wo dieselben übermütigen Leute gewohnt haben, woraus die Zauberinnen und alle Verächter der heiligen Herrschaft erkennen mögen: Jede Sünde hat ihren eigenen Stachel.[47]

 

Diese Quelle hat Heimreich gekannt, denn in einer handschriftlichen Ergänzung zur erweiterten Auflage seiner Chronik notiert er:[48] „Wobei gleichwol zumercken, das M. Samuel Meigerus schreibe (jn s. Panurgia Lamiarum 1:2. c:3. Ff. 3&4.), das dergleichen sich umb den anfanck der geleuterten Evangelischen Warheit hie im lande an der Seekante solle begeben haben, womit er ohne Zweifel auf der A: 1532 auf Allerseelen ergangenen Fluth wirt deuten, da sein Vater M. Joh. Mejer von Pelwurm zum Pastorn und Probste in Rensburg ist gefodert, und ist zuverwundern, das, da es so newlich geschegen, niemand solches schriftlich bei solcher Fluth habe angemercket.“

 

Das Motiv der Jungfrauen, die mit dem Prediger gerettet wurden, weil sie zum Zeitpunkt der Freveltat den Gottesdienst in einer anderen Kirche besucht haben, gehört zu den erbaulichen Geschichten, die im Umkreis der Pastorenfamilien kolportiert wurden. Nach den Untersuchungen von Albert Panten handelt es sich bei diesem Rettungsmotiv um eine Übertragung der Erinnerung an die Flut von 1532, bei der der Ort Vedderingerip bei Pellworm überflutet wurde[49], hat also mit dem Schicksal Rungholts und seiner Menschen ursprünglich nichts zu tun. Der Name Bupschlut oder Bopschlut verweist auf den Buphever-Koog, der als Teil der Insel Strand bei der Sturmflut von 1634 untergegangen ist, die Alt-Nordstrand zerriss und nur die heutigen Inseln Pellworm und Nordstrand sowie die Hallig Nordstrandischmoor übrig ließ. Dort muss ein Ort namens Bupslut gelegen haben, ca. 18 km südlich von Rungholt. Die Erzählung von den geretteten Jungfrauen, die dem Untergang von Fedderingman Capell van Rip entkamen, spiegelt und verdoppelt damit die Fiktion der wunderbaren Rettung des Predigers von Rungholt, der sich – wie die frommen Jungfrauen – ebenfalls auf eine höher gelegene Stelle hat retten können. Panten vermutet mit guten Gründen, dass der Witzworter Pastor Laurens Adsen (1550/51-1603) diese Sage am Ende des 16. Jahrhunderts bei der Vermählung seiner Tochter mit einem Backe Boisen vorgetragen hat.[50] Danach soll der 1634 verstorbene Evesbüller Pastor Knut Lorenzen diese Nachricht übernommen und in die Eiderstedter Chronik weitergegeben haben.[51]

Wir finden dieses Motiv zum ersten Mal bei Matthias Pampus (1567-1645), Pastor in Ording, dann in den Annales Strandenses (um 1600); von dort haben es Cornelius von der Loo aus Koldenbüttel in Eiderstedt (zwei Fassungen um 1620) und Jonas Hoyer (1587-1640), Strandvogt in Eiderstedt, (nach 1624) übernommen. Die folgende Übersicht zeigt die Entwicklung dieses Sagenmotivs; die ausgewählten Textabschnitte stellen nur einen Teil des jeweiligen Chronikberichts dar. Die beiden Kernmotive der Rungholtsage, Hostienfrevel und göttliches Strafgericht, die in den folgenden Belegen nicht wiedergegeben werden, haben diese Chronisten bloß weitergegeben, ohne inhaltlich Wesentliches hinzuzufügen oder auszulassen.

 

Matthias Pampus (nach 1600)

Hierüber entbrandt Gottes Zorn, liess am Tage Michaelis eine grausame Wasserfluth kommen, in welcher Rungholt vergehet, in Abgrund sincket, viele Menschen und Viehe samt sieben Kirchspiel verderben, und seyn nur der Priester, seine Magd, und drey Jungfern, so auff der Kirchmess zu Bupschluret gewesen, davon gekommen, [...].[52]

 

An den Anfang der „Annales Strandenses“, einer kleinen Chronik aus der Zeit um 1600, setzt der unbekannte Schreiber folgenden Hinweis: „Dith Ist auß Detleff Barm sein Buch abgeschrieben, So er auß Hans Anderßen vff Föhre hat auch abschreiben lassen, Anno 1620 Inn Majo.“

 

Annales Strandenses (nach 1600)

[…] deßuluigen dages darnah ist de prediger daruon gegangen, woden ock euen darnah tho dersuluen tidt 4. Rieke Jungkfruwen sich vpgemacket vnd nah Bubschlute tho Kerckemeße gegahn, vnd hefft sich darup alsoforth ein solch vnwedder vndt Storm erhauen, dat am suluigen Orde 7. Carspelln, darunter Rungholt dat Vernehmste gewesen, sint versuncken vnd im solten water vndergegangen, vnd sint ehrer nicht mehr mit dem Leuede daruon gekahmen alse de gemelte Prediger, vnd de 4. Rieke Jungkfruwen darnoch eine geschlechte, alse Backe Boyens, vnd sinen Eruen van tho Bupschluthe auerich ist. [53]

 

Cornelius von der Loo (um 1620)

(1)

Alse he averst kum wegh waß, Lett Gott ein schrecklich Unwedder kamen, dat also 7. Karspell undergingen, Veer Döchter Vornehmer Lüden Kinder wehren tho Bubschlud tho Karckmiß gegangen, so einig und allein man averich byen Leven geblieben.

(2)

Wenig dage hernach kömpt ehm in der nacht ein Stemme he schollde ilich daruon than, Gott wolde dem Orth strafen, alß he nu kum henwech waß, leth Gott ein erschrecklich unwedder kamen und lett also de 7 Karspell under gehn, 4. Jungfruwen vornemer lüde Kinder wehren tho Bobschlut thor Kerken gegahn dar süluest denn andern dag gades wordt tho horen, diese Bleuen allen mitt dem Prester leuendig, in dem 7. Kerspelen. p.[54]

 

Jonas Hoyer (nach 1624)

Alsobald ist er aufgestanden, und in das nächste Karspel gegangen, und gleich darauf ist ein so erschrecklich Erdbeben und gräulich Wetter erfolget, daß die obgedachten Länder ganz umgekommen, und versunken sind, auch nicht mehr als der Prediger und vier Jungfrauen, eines reichen Mannes Töchter zu Rungholt, die den Tag zuvor nach Bupsoeth zur Kerkenisse gegangen, davon gekommen sind. Von den Frauenspersonen ist noch heute zu Tage ein Geschlecht übrig, nämlich Backe Boisen und seine Erben zu Bupsluth.[55]

 

Der Ratmann von Koldenbüttel, Peter Sax, geboren 1597 in Evensbüll auf der Insel Strand, gebildeter Chronist und rationaler Geschichtsschreiber seiner Zeit, gestorben 1662, hat 1655 eine Sammlung von Stammbäumen friesischer Geschlechter zusammengestellt,[56] unter denen der Name Backe Boisen vorkommt. Die eigentliche Rungholtsage erwähnt er nicht. Anton Heimreich greift dies auf und listet in der zweiten Auflage seiner Chronik (1668) die Genealogie dieser Familie im Zusammenhang mit dem Untergang Rungholts und der Rettung einiger Frommer auf, wohl weil er seine Familie ebenfalls von diesem Geschlecht herleitete.[57] Die Abstammung Backe Boisens von den Geretteten der Rungholt-Katastrophe wird erstmals in den „Annales Strandenses“ erwähnt und findet sich bei den Chronisten Cornelius von der Loo und Jonas Hoyer.

Das Motiv der sagenhaften Rettung kannte Matthias Boetius (um 1580/85 bis 1625), Pastor in Evensbüll, nicht; in seinem 1622 gedruckten Werk „De Cataclysmo Nordstrandico“ (Von der Überschwemmung Nordstrands) schreibt er:[58] „Aber wie Zeit und Weise ungewiß ist, wann und wie jene Dörfer und Felder untergegangen sind, von denen die Sage und ein paar kümmerliche Berichte erzählen, so sind auch Ort und Stätte unbekannt, wo jedes von ihnen gelegen hat, wenn auch noch von vielen aus geringen Schriften die Namen etwa mitgeteilt werden können.“ Durch Boetius ist eindeutig belegt, dass es sich bei dem Rettungsmotiv um eine Sage im ursprünglichen Wortsinn des Begriffs handelt, also um das, was nur gesagt, nur behauptet wird. Dies trifft ebenso auf die Erzählungen von der Hostienschändung zu, so dass sich das Fabulat der Rungholtsage aus textkritischer Sicht insgesamt als eine reine Erfindung der Chronisten entpuppt. Der Anteil des überlieferten Berichts (Untergang von Rungholt) ist denkbar gering; der weitaus größte Teil der Sage enthält überhaupt kein Wissen von einem wirklichen Ereignis, sondern überträgt Sagenmotive aus anderen Regionen und verknüpft sie mit erbaulichen Warnungen vor Hochmut und Hostienschändung. Sie ist damit im strengen Sinne gar kein Bericht von einem historischen Ereignis, täuscht also als poetische Fiktion ihre mimetische Form nur vor.

Trotz seiner insgesamt skeptischen und kritischen Position – er spricht ausdrücklich von „merkwürdige(n) Geschichten“ und bezeichnet die Erzähler als abergläubische Leute – ist es aber ausgerechnet Boetius, der die Rungholtsage mit einem weiteren Motiv verbindet, das von späteren Chronisten dankbar in den vorhandenen Textkorpus integriert wird:

 

Matthias Boetius (1622)

Doch ist nichts so sicher, wie daß in jener Bucht zwischen Trindermarsch, Südfall und Pelworm neben den zuletzt genannten Dörfern auch Rungholt gelegen hat, eine Stadt, deren Name bei unseren Vorfahren ganz besonders berühmt gewesen und auch heute noch im Volksmunde lebendig ist. Es werden in der Tat ganz merkwürdige Geschichten über deren Zerstörung und Untergang verbreitet: wegen der gewiß übermäßigen Gottlosigkeit der Bewohner und der abscheulichen Freveltat gegen den Priester und das heilige Sakrament sei jene Stadt im Augenblick von einem Erdspalt verschlungen. Und die abergläubischen Leute meinen, sie werde so, wie sie war, wieder auftauchen und an ihre alte Stelle zurückkehren, noch vor dem Ende der Welt. Sie erzählen dazu auch noch von Erscheinungen und Truggestalten: mit allen unversehrten Häusern stehe diese Stadt im Bauche der Erde, und es tauche, wenn auch nicht immer, so doch dann und wann, der Kirchturm aus dem Wasser oder dem Ufer auf, und man sähe ihn bei klarer Luft ganz deutlich, sogar Glockenklang werde von Vorübergehenden gehört; und andere ähnliche Dinge.[59]

 

Von einer Stadt, die von einer Erdspalte verschlungen wird, erzählt man sich an der Ostsee. Vineta (Vineta oder Wineta bedeutet „Wendenstadt“) war im 10. und 11. Jahrhundert ein bedeutender Handelsplatz auf der Insel Usedom, von dem man glaubte, dass er durch eine Wasserflut zerstört oder im Meer versunken sei.[60] Er wird gelegentlich mit Julin oder Jumne auf der Insel Wollin gleichgesetzt, wo auf dem so genannten Silberberg die 1098 zerstörte Wikingerfeste Jomsburg lag, deren Vernichtung wohl den Anlass zur Entstehung der Sage gegeben hat. Ihre uns bekannte Gestalt hat sie erst im 19. Jahrhundert durch den Sagensammler Pommerns erhalten, Jodocus Deodatus Hubertus Temme (1798-1881), der sie für seine Sammlung aus historischen Quellen 1840 zusammengestellt hat.

 

Wineta

An der nordöstlichen Küste der Insel Usedom sieht man häufig bei stillem Wetter in der See die Trümmer einer alten, großen Stadt. Es hat dort die einst weltberühmte Stadt Wineta gelegen, die schon vor tausend und mehr Jahren wegen ihrer Laster und Wollust ein schreckliches Ende genommen hat. Diese Stadt ist größer gewesen, als irgend eine andere Stadt in Europa, selbst als die große und schöne Stadt Constantinopel, und es haben darin allerlei Völker gewohnt, Griechen, Slaven, Wenden, Sachsen und noch vielerlei andere Stämme. Die hatten allda jedes ihre besondere Religion; nur die Sachsen, welche Christen waren, durften ihr Christenthum nicht öffentlich bekennen, denn nur die heidnischen Götzen genossen eine öffentliche Verehrung. Ungeachtet solcher Abgötterei waren die Bewohner Winetas aber ehrbar und züchtig von Sitten, und in Gastfreundschaft und Höflichkeit gegen Fremde hatten sie ihres Gleichen nicht. Die Einwohner trieben einen überaus großen Handel; ihre Läden waren angefüllt mit den seltensten und kostbarsten Waaren, und es kamen Jahr ein Jahr aus Schiffe und Kaufleute aus allen Gegenden und aus den entferntesten und entlegensten Enden der Welt dahin. Deshalb war denn auch in der Stadt ein über die Maßen großer Reichthum, und das seltsamste und lustigste Leben, das man sich nur denken kann. Die Bewohner Wineta's waren so reich, daß die Stadtthore aus Erz und Glockengut, die Glocken aber aus Silber gemacht waren; und das Silber war überhaupt so gemein in der Stadt, daß man es zu den gewöhnlichsten Dingen gebrauchte, und daß die Kinder auf den Straßen mit harten Thalern sollen gespielt haben. Solcher Reichthum und das abgöttische Wesen der Heiden brachten aber am Ende die schöne und große Stadt ins Verderben. Denn nachdem sie den höchsten Gipfel ihres Glanzes und ihres Reichthums erreicht hatte, geriethen ihre Einwohner in große bürgerliche Uneinigkeit. Jedes von den verschiedenen Völkern wollte vor dem anderen den Vorzug haben, worüber heftige Kämpfe entstanden. Zu diesen riefen die Einen die Schweden, und die Ändern die Dänen zu Hülfe, die auf solchen Aufruf, um gute Beute zu machen, schleunig aufbrachen, und die mächtige Stadt Wineta bis auf den Grund zerstörten, und ihre Reichthümer mit sich nahmen. Dieses soll geschehen sein zu den Zeiten des großen Kaisers Karl.

Andere sagen, die Stadt sei nicht von den Feinden erobert und zerstört, sondern auf andere Weise untergegangen. Denn nachdem die Einwohner so überaus reich geworden waren, da verfielen sie in die Laster der größten Wollust und Ueppigkeit, also daß die Eltern aus reiner Wollust die Kinder mit Semmeln wischten. Dafür traf sie denn der gerechte Zorn Gottes und die üppige Stadt wurde urplötzlich von dem Ungestüm des Meeres zu Grunde gerichtet, und von den Wellen verschlungen. Darauf kamen die Schweden von Gothland her mit vielen Schiffen, und holten fort, was sie von den Reichthümern der Stadt aus dem Meere herausfischen konnten; sie bargen eine Unmasse von Gold, Silber, Erz und Zinn und von dem herrlichsten Marmor. Auch die ehernen Stadtthore fanden sie ganz; die nahmen sie mit nach Wisbi auf Gothland, wohin sich auch von nun an der Handel Wineta's zog. Die Stelle, wo die Stadt gestanden, kann man noch heutiges Tages sehen. Wenn man nämlich von Wolgast über die Peene in das Land zu Usedom ziehen will, und gegen das Dorf Damerow, zwei Meilen von Wolgast, gelangt, so erblickt man bei stiller See bis tief, wohl eine Viertelmeile in das Wasser hinein eine Menge großer Steine, marmorner Säulen und Fundamente. Das sind die Trümmer der versunkenen Stadt Wineta. Sie liegen in der Länge, von Morgen nach Abend. Die ehemaligen Straßen und Gassen sind mit kleinen Kieselsteinen ausgelegt; größere Steine zeigen an, wo die Ecken der Straßen gewesen, und die Fundamente der Häuser gestanden haben. Einige davon sind so groß und hoch, daß sie ellenhoch aus dem Wasser hervorragen; allda haben die Tempel und Rathhäuser gestanden. Andere liegen noch ganz in der Ordnung, wie man Grundsteine zu Gebäuden zu legen pflegt, so daß noch neue Häuser haben erbaut werden sollen, als die Stadt vom Wasser verschlungen ist. - Wie weit die Stadt der Länge nach sich in das Meer hinein erstreckt hat, kann man nicht mehr sehen, weil der Grund abschüssig ist, das Steinpflaster daher je weiter, desto tiefer in das Meer hineingeht, auch zuletzt so übermooset und mit Sand bedeckt ist, daß man es bis zu seinem Ende hin nicht verfolgen kann. Die Breite der Stadt ist aber größer als die von Stralsund und Rostock, und ungefähr wie die von Lübeck.

In der versunkenen Stadt ist noch immer ein wundersames Leben. Wenn das Wasser ganz still ist, so sieht man oft unten im Grunde des Meeres in den Trümmern ganz wunderbare Bilder. Große, seltsame Gestalten wandeln dann in den Straßen auf und ab, in langen faltigen Kleidern. Oft sitzen sie auch in goldenen Wagen, oder auf großen schwarzen Pferden. Manchmal gehen sie fröhlich und geschäftig einher; manchmal bewegen sie sich in langsamen Trauerzügen, und man sieht dann, wie sie einen Sarg zum Grabe geleiten..

Die silbernen Glocken der Stadt kann man noch jeden Abend, wenn kein Sturm auf der See ist, hören, wie sie tief unter den Wellen die Vesper läuten. Und am Ostermorgen, denn vom stillen Freitage bis zum Ostermorgen soll der Untergang von Wineta gedauert haben, kann man die ganze Stadt sehen, wie sie früher gewesen ist; sie steigt dann, als ein warnendes Schattenbild, zur Strafe für ihre Abgötterei und Ueppigkeit, mit allen ihren Häusern, Kirchen, Thoren, Brücken und Trümmern aus dem Wasser hervor, und man sieht sie deutlich über den Wellen. - Wenn es aber Nacht oder stürmisches Wetter ist, dann darf kein Mensch und kein Schiff sich den Trümmern der alten Stadt nahen. Ohne Gnade wird das Schiff an die Felsen geworfen, an denen es rettungslos zerschellt, und keiner, der darin gewesen, kann aus den Wellen sein Leben erretten.

Von dem in der Nähe belegnen Dorfe Leddin führt noch jetzt ein alter Weg zu den Trümmern, den die Leute in Leddin von alten Zeiten her „den Landweg nach Wineta“ nennen.[61]

 

Diese Sage eignete sich zur Übertragung auf Rungholt zunächst wegen der verwandten Motive; auch von den Menschen in Vineta wurde erzählt, ihr Reichtum habe sie zu allerlei Lastern verführt, weswegen sie der gerechte Zorn Gottes getroffen und ihre Stadt untergegangen sei. Es waren aber die beiden weiteren Motive dieser Sage, die eine gewisse Faszination auf Matthias Boetius ausgeübt haben müssen, so dass er sie zu der allmählich entstehenden Rungholtsage hinzufügte, obwohl er solchen Sagenmotiven eigentlich kritisch gegenüberstand. Das erste behauptet, man könne die Stadt an der Stelle, wo sie versunken ist, noch heute sehen. Manchmal entstehe dort unten wunderbare Bilder von der Stadt, wie sie früher einmal gewesen ist, und Menschen seien zu sehen, die ihren Geschäften nachgehen, ja die Stadt steige zu bestimmten Zeiten mit allen Gebäuden aus dem Wasser empor. Das zweite Motiv erzählt vom Glockenklang, den man bei stiller See hören könne.[62]

Boetius kommentiert die Rungholtsage folgendermaßen (in der Übertragung von Hartz, S. 66): „Diese Geschichten sind entweder Altweiberträume oder riechen nach Fabeln, die einst zur Bestätigung des Aberglaubens ausgedacht sind; der Wahrheit näher kommt die Meinung der Leute, die glauben, dieser Flecken sei mit jenen sieben Nachbardörfern durch irgendeine sehr große Flut nach der Art niedriger und flacher Länder überschwemmt worden und habe dabei, wie wir nachher ausführlicher erzählen wollen, seinen Untergang gefunden; er sei bald darauf aus dem Deichband geworfen, schließlich ganz aufgegeben und in die Gewalt des Meeres gekommen.“ Außer Boetius haben auch Heinrich Heimreich und Matz Paysen die Motive der Vinetasage gekannt und ihre Übertragung auf die Rungholtsage kritisch kommentiert. Da wir auch in der Vineta-Sage die Vorstellung von der Hybris und der darauf folgenden Strafe Gottes finden, ist es kein Wunder, dass sich spätere Chronisten nicht in erster Linie an Boetius’ rationaler Skepsis orientierten, sondern gerade die christlich motivierten moralisch-lehrhaften mit den bildhaft-phantastischen Aspekten zusammenfügten. Die rationale Skepsis hat somit die Bildung der Sage geradezu befördert und zu einem immer komplexeren Fabulat beigetragen.

 

Als Anton Heimreich einige Jahrzehnte später die Materialien für seine „Nordfresische Chronik“ zusammenstellte, konnte er außer auf den Bericht von Boetius auf ein Manuskript seiner Bruders Heinrich zurückgreifen. Hauptquellen für die Brüder Heimreich waren die „Annales Strandenses“ aus der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, wo der Sagenkern folgendermaßen erzählt wird:

 

Annales Strandenses (um 1600)

Im Jahre 1216 hat es abermals eine große Flut gegeben, alles eingedeichte Land wurde überflutet und etwa 10.000 Menschen sind in den drei Ländern Eyderstette, Dithmarschen und Nordtstrandt ertrunken. Im Jahre 1300 sind auf der Insel Strand 28 Kirchspiele untergegangen und damals ist auch Rungholt versunken.

Da sind die Leute so gottlos gewesen, dass sie ihr Übermut zu großer Untat getrieben hat. Als einmal einige Gäste beieinander saßen, haben sie – mit Verlaub zu sagen – eine Sau betrunken gemacht, sie ins Bett gelegt und einen Boten zum Prediger geschickt, dass ein kranker Mensch das Sakrament begehre. Als der Prediger kam und dies sah, wollte er dem Schwein das Sakrament nicht geben, sondern ging davon. Als er nach Hause gehen wollte, saßen einige in einem Krug, die sprachen, da kommt unser Prediger. Wenn er nicht zu uns kommen will, so wollen wir ihn in den Graben stoßen. Sie gingen hinaus, baten und zwangen ihn, hineinzukommen, fragten ihn freundlich, wo er gewesen sei, und als der Prediger ihnen davon erzählt hatte, fragten sie ihn, ob er das Sakrament bei sich habe. Als er dies bejahte, baten sie ihn freundlich, er möge es sie sehen lassen. Der Prediger öffnete den Kasten und zeigte ihnen die Oblaten. Darauf fragten sie ihn, ob Gott darin sei und sprachen: Wenn Gott darin ist, muss er mit uns saufen und gossen das Behältnis mit den Oblaten im Schrein voll Bier. Da bat der Prediger um Gottes Willen, sie mögen ihm die Büchse wiedergeben. Sie aber fragten, ob man nicht halten solle, was man Gott geschworen habe; der Prediger dachte, es könne sich um nichts Gutes handeln und machte sich still davon. Als er nach Hause kam, ist er in die Kirche gegangen, schloss die Tür hinter sich und betete zu Gott dem Allmächtigen, er solle sich diese schändliche Tat ansehen. In der folgenden Nacht hörte der Prediger eine Stimme, die sprach: Stehe auf, Priester und gehe aus diesem Land, denn Gott will dieses Land verderben lassen. Am Tag danach ist der Prediger weggegangen, […].[63]

 

Magister Henricus (Heinrich) Heimreich schrieb sein Manuskript zwischen 1652 und 1655 und verband die Motivkomplexe von Hostienfrevel, Hochmut und Untergang mit den beiden aus der Vinetasage übernommenen Motiven der Wiederauferstehung der Stadt und des Glockenklangs. Auch er distanziert sich ausdrücklich vom Wahrheitsgehalt dieser Motive und bezeichnet sie als „ertichtete fabel“.

 

Henricus Heimreich (um 1655)

[...] auch das Städtlein Rungholt, deßen nahme bei den Alten nicht allein sehr berühmt gewesen, sondern auch annoch bei dem gemeinen Man nicht unbekant ist. Und erzehlet man viell wunderliches dinges von deßen verwüstung und untergang, so von ihrem verübten muthwillen und gotlosigkeit sei hergerühret. den wie in demselben auff eine zeit etzliche muthwillige gäste beisammen gewesen, da haben sie eine sawe truncken gemacht, und auff ein bett geleget, darauff sie ihren prediger haben laßen ersuchen, er möchte kommen, und einem krancken das heilige nachtmahl reichen, auch sich untereinander verschworen und verbunden, das wen er würde vorhanden sein, und ihnen nicht würde wilfertigen, so wolten sie ihm Quabeldrancken – welches nach alter Fresischer art so viel hetset, als in die grube stoßen, und im drittentheil des Strandiger Land Rechts artic: 35 bei halsstraffe ist verbothen [...]- wie nun der prediger gekommen, und das hl. sacrament nicht so greulich hat wollen misbrauchen, da haben sie untereinander gesprochen, ob man nicht solte halten, was man Gott bei Eidespflicht hätte gelobet? Und als demnach der prediger leitlich gemercket, das sie nichts gutes mit ihm in sin hatten, als hette er sich stilschweigends davon gemacht, und wie er wiederumb hat wollen heimgehen, und 2 gotlose bosewichte, in einem kruge sitzende, ihn gesehen, da haben sie sich beredet, das so er nicht zu ihnen herein gehen würde, so wolten sie ihn auff Bote Bote – das ist unehrlich die haut voll – schlagen, welches im 3. Theil des Landrechts artic: 34, mit verweisung aus den 7 harden, und beraubung der ehren, verboten – darauff sie hinausgegangen, haben den prediger mit gewalt ins hauß gezogen, und ihn gefraget, wo er gewesen? Und wie er es ihnen hat geklaget, wie man mit Gott und ihm habe geschimpfet, haben sie gefragen, ob er das sacrament bei sich hette? und wie er ja geantwortet, haben sie ihn freundlich gebeten, daß er ihnen dasselbige wolte zeigen. darauff er ihnen die buchse hat gegeben, darin das sacrament gewesen, welches sie mit spottischen und gotteslästerlichen worten haben zu sich genommen, und gesprochen: Ist Gott darin, so muß er auch mit Uns sauffen, und haben die buchse voll bieres gegoßen: der pastor aber habe auff sein freundlich anhalten die buchse wieder bekommen, sei in die kirche gegangen, habe die thüre hinter sich verschloßen, und Gott den Herren angerufen, das er diese gotlose leute nach seiner gerechtigkeit wolle strafen: darauff er in der nechstfolgenden nacht diese stimme habe gehöret: Stehe auff und gehe aus diesem lande, den Gott wird dies landt verderben. Worauff der pastor auffgestanden und davon gegangen. Und ist alsbald darauff ein ungestümer wind erfolget, das das gantze land Rungholt - oder wie andere melden, gantz 7 kirchspelen, worunter Rungholt das fürnemste gewesen - im waßer sei vergangen, und niemand davon gekommen, ohn gemeldter pastor und 4 jungfrawen, eines frommen Mannes kinder daselbst, welche des abents zuvor von Rungholt aus auff Bupschlutt sein gegangen, umb daselbst dem Gottesdienst bei zu wohnen, von welchen zu Bupschlott das geschlecht Bakke Boiesens und seiner Erben sollten entsproßen sein. Und stehen die alten abergleubischen leute in dem Wahn, das dieses Rungholt noch einmahl wieder werde auffstehn, und für dem Jungsten tage zu vorigem stande werde kommen. Melden auch, das diese Stadt mit allen hausern gantz in der erden stehe, und deßen thurm oftermahls bei klarem wetter sich herfor thue und klar sehen laße, und das auch von den vorübergehenden der klockenklang und dergleichen gehöret werde. Weil aber dieses entweder ein alter Weibertraum zu sein scheinet, oder auch eine zur bestätigung des aberglaubens weiland ertichtete fabel ist, welcher so viel weniger zu getrawen, weil ein ebenmäßiges fast von der durch ergiesung des Ost-sees in pommern ertrunckenen Stadt Julin wird gemeldet.[64]

 

Henricus Heimreich ist der einzige Chronist, der die Drohung der Bauern gegen den Prediger genauer bezeichnet; er erwähnt den Quabeltrank oder die altfriesische Fremdenprobe, die C.P. Hansen in einem Brief an Karl Müllenhoff folgendernmaßen erläutert: „Der Wapel- oder Quabel-Tranck war nichts anders als das heimliche oder gewaltsame ins Wasser Stoßen und Ersäufen eines Menschen“.[65] Hansen zitiert Einzelheiten über diese zweifelhafte Tradition aus dem Ostfriesischen Landrecht von 1746:

 

Dies war bei denen am Wasser und in einem mit vielen Flüssen, Canälen und Gräben versehenen Lande wohnenden Friesen eine sehr im Schwange gehende Gewaltthat, und sind deswegen viele sorgfältige Gesetze dagegen errichtet worden. – Die fatalen friesischen Partheien der Verkopers und Seiringers übten diesen Wapeltranck bei ihrer Rachbegierde sehr grausam aus, so daß, wenn sie Gefangene von einander bekommen, davon sie geargwohnet, daß es Ausländer wären, die sie gar nicht im Lande geduldet, sie dieselbe vermittelst ihres nachfolgenden Schibboleth auf die Probe gestellt hätten: „Dir is nin Klirk so krol, az Klirkampster Krolheerede Klirk, aller Klirken ys hi to krol“ (In der Sylterfriesischen Mundart: Dear es niin Pröst sa kröllet, üs Klirkampsters kröllhiiret Pröst, allde Pröster es hi tö kröllet.) – (Auf Deutsch: Es ist kein Geistlicher (Chleriker) so kraus (klug, listig oder frech), als Klirkampsters kraushaariger Clerikus, allen Clerikern ist er zu kraus.) Wer nun dieses krause friesische Sprichwort ohne Stammeln oder Häsitation nicht fertig aussprechen konnte, der ward für einen Fremdling gehalten und mußte den Wapeldrank angehen, ward ins Wasser geworfen und mit Stangen so lange unten gehalten, bis er den Geist aufgegeben hatte.

 

Als Anton Heimreich den Abschnitt über Rungholt in seiner Chronik niederschrieb, diente ihm das Manuskript seines Bruders Heinrich als Hauptquelle. Damit waren die zentralen Motive, die wir noch heute in der Rungholtsage finden, zu einem Erzählkomplex zusammengefügt. Die Brüder Heimreich haben bei der Niederschrift ihrer Chronik die Fassung der Rungholtsage des Oldesloer Rektors Matz Paysen nicht gekannt, die in einer etwas abweichenden Überlieferung tradiert wird. Paysen übernimmt die beiden Motive von der Vineta-Sage, bezweifelt aber wie Boetius, dass sie sinnvoller weise mit Rungholt in Verbindung gebracht werden könne. Matthias Paysen (Paisenius) wurde 1622 in Hattstedt geboren, besuchte von 1630 bis 1641 die Husumer Gelehrtenschule, studierte 1643 in Königsberg und wirkte seit 1649 als Rektor und Kantor in Oldesloe. Er ist nach 1659 gestorben. Seine Fassung der Sage lautet folgendermaßen:

 

Matz Paysen (um 1650)

Ein kleines Geschichtchen aus einer Nordstrander Handschrift friesischer Zunge.

Rungholt war ein kleines Städtchen auf dem Strand bei Pellworm, dort wo jetzt Südfall sich befindet. In diesem Ort verlangten einige betrunkene Bauern, daß der Pastor nach einer öffentlichen Schankstätte herbeigeholt würde, damit er einem Kranken den letzten Hilfs- und Liebesdienst leiste. Der Wirt erinnerte jene daran, daß er eine gewaltige Sau habe; man könne diese durch ein Quantum Bier bis zur Trunkenheit wie einen Menschen voll machen, und sie werde durch ihr Grunzen die Stimme eines Kranken zum Ausdruck bringen, wenn sie auf ein Lager gebettet wäre. Da lachten die Bösewichter dazu und bildeten sich frevelnden Sinnes ein, daß, wenn sie die Frömmigkeit des Priesters und Gott in dieser Weise verspotten könnten, sie den Ruhm einer großen Tat sich bei ihren Mitbürgern erworben haben würden. Der Priester, der da meinte, daß nichts weiter geschehen würde, wenn er auch den Mutwillen sowie die Rohheit und den äußersten Frevelsinn seiner Pfarrkinder wohl kannte, eilte mit dem heiligen Kelch am späten Abend herbei. Die Bauern mahnten ihn, daß er die heilige Handlung begänne und führten den Priester zu dem Lager, auf dem die Sau, von Bier eingeschläfert, grunzte, und suchten ihm zu bedeuten, dort seien die Obliegenheiten seines Amtes bei dem Kranken zu erledigen. Da der Mann das Tier erblickte, schauderte er zurück; aber als er nach den heftigsten Scheltworten gegenüber den Zechbrüdern fortgehen wollte, rissen ihn die Teuflischen zur Ofenbank und hießen ihn, er mochte nun wollen oder nicht, mit ihnen zechen. Als er sich weigerte und alle Heiligen zu Hilfe rief, versetzten sie ihm Ohrfeigen, entrissen dem Priester den heiligen Kelch, warfen ihn auf den Boden und richteten, nachdem sie ihn wieder aufgesammelt hatten, ein frevelhaftes Saufgelage mit ihm an. Endlich entließen sie den Priester mitten in der Nacht, nachdem sie ihn mit ihren Fäusten zerbläut hatten, der nun über den Frevel seiner Pfarrkinder empört und eingedenk des ihm zugefügten Unrechts, da er an menschlicher Hilfe verzweifelte, unverzüglich die göttliche anrief. Und nicht blieb auf seine Bitten in dem hinter ihm wieder verschlossenen Gotteshause die rasche Strafe Gottes aus. Da ihn nämlich auf sein Flehen mit drei Jungfrauen in tiefer Nacht die Stimme traf: ,Weichet sofort mit den Eurigen auf die Hügel, denn bald wird Rungholt untergehen'.

Daher wanderten jene mit den Ihrigen von dort fort, wo jetzt Südfall liegt. Rungholt ging nun in dieser stürmischen Nacht mitsamt den umliegenden Kirchspielen durch eine Ueberschwemmung zugrunde. Keineswegs wurde es, wie die Menge bei uns erzählt, weil nämlich bisweilen Türme gesehen, ja sogar auch Glocken von den Vorübersegelnden gehört werden, infolge Aufreißens des Erdbodens verschlungen, sondern daß Rungholt vielmehr durch eine Ueberschwemmung verschüttet wurde, bezeugen die vielen Spuren alter, wenn auch zumeist durch Schlamm überdeckter Gräben bei zurücktretender Meeresflut, die ich selbst, weil diese Geschichte bei uns sehr verbreitet ist, mit meinen eigenen Augen habe wahrnehmen wollen, und zwar im Jahre 1635.

Dieser Geschichte gedenkt Mathias Boethius mit wenigen Worten über die Nordstrander Ueberschwemmungen.[66]

 

Schon Anfang des 18. Jahrhunderts findet sich der Schwank von der trunkenen Sau in Paul Ludolf Beckmenmeyers Vermehrtes Couriöses Antiqvarius, das ist Allerhand auserlesene geographische und historische Merckwürdigkeiten, so in denen europäischen Ländern zu finden aus berühmter Männer Reisen zusammen getragen und mit einen zweyfachen Register versehen. Hamburg 1720, S. 661: „In Dithmarsen hat Anno 1570. die See ein Stück Landes verschlungen/ und zwar wegen der Bosheit der Einwohner: Denn kurtz vor der Wasserfluth haben sie eine Sau/  als eine Sechs-Wöcherin in ein Bette gelegt/ und einen Priester hohlen lassen/ der der sie communiciren sollte/ welcher ihnen auch diese bevorstehende Straffe GOttes angekündiget hat.“

Die Sage ist in ausführlicher Gestalt von dem Kunst- und Literaturwissenschaftler Johann Georg Theodor Grässe 1868/71 in seiner Sammlung „Sagenbuch des preußischen Staats“ veröffentlicht worden und hat neben der Version bei Müllenhoff zur Popularisierung der Rungholtsage beigetragen.[67]

 

Betrachtet man Inhalt und Struktur dieser allmählich verfertigten Sage unter den Aspekten moderner Sagenforschung[68], so fällt zunächst auf, dass ihr ein eigentliches „Memorat“ nur in sehr reduktiver Weise als Erinnerung an eine große Sturmflut des 14. Jahrhunderts und den Untergang eines Siedlungsraums mit Namen „Rungholt“ zugrunde liegt. Sie ist – wie alle Sagen – zunächst eine mündliche Erzählung, die aber früh in einem Erzähltext fixiert wird. Dem ursprünglichen Memorat fügen die gelehrten Chronisten ein komplexes Fabulat hinzu, das nicht – wie man zur Storm-Zeit annahm – von der Fabulierkunst des Volkes geformt wurde, sondern das sich als geschicktes Konstrukt aus christlich-moralischen Motiven erweist. In diesem allmählich erweiterten Text wurden die aus der erbaulichen Literatur übernommenen Motive von Hostienschändung, göttlicher Strafe und wunderbarer Rettung mit einer regionalen Genealogie verknüpft und so der Zusammenstoß von Numinosen und Profanen in großer Eindringlichkeit geschildert. In dieser Gestalt boten die Erzähler den Zuhörern aus Anlass christlich ritualisierter Feierlichkeiten (Hochzeit, Predigt) eine mythisierende und symbolisierende Erklärung von Vorgängen, die für ein prä-rationales Bewusstsein zunächst unerklärbar bleiben mussten. Darüber hinaus konnten die Erzähler, die alle ein Pastoren-Amt innehatten, mit Hilfe der Sage auf das zwischenmenschliche Verhalten des Einzelnen einwirken. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts konnten die in der Sage erwähnten Wertungen und Normen wirksam werden, weil die hier vorgetragenen Ansichten über Menschen mit dem kulturellen Kontext ihrer Lebenswelt übereinstimmen. Storm, Hansen und Müllenhoff verstanden im 19. Jahrhundert diese Überlieferung als kulturelle Manifestation aus der Geschichte ihrer Heimat an der Westküste Schleswig-Holsteins und damit als einen Beitrag zur entstehenden nationalen Kultur eines zukünftigen Deutschland. In dieser Gestalt hat die Sage ihre Wirkung beim Publikum erzielt.

 

 

IV. Literarisierung der Sage

 

Neben der weiten Verbreitung der Rungholtsage durch die populäre Sammlung Müllenhoffs hat die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnene Literarisierung dazu beigetragen, den Untergang von Rungholt im deutschen Sprachraum bekannt zu machen.

Als erster Autor hat der Däne Hans Christian Andersen den Rungholt-Stoff für seinen zur Jahreswende 1848/49 erschienenen Roman „De to baronesser“ („Die zwei Baroninnen“) aufgegriffen. Darin erzählt er von einem Waisenkind aus der Unterschicht, das von einer Adeligen erzogen und dazu für viele Jahre auf die Hallig Oland (damals Teil des dänischen Gesamtstaats) geschickt wird. Der Leser begleitet die Emanzipation der Heldin, die zwei sie prägende Erlebnisse zur Grundlage ihrer späteren Schriftsteller-Existenz miteinander verbindet: Die Erfahrung der ungebändigten Natur der Hallig in der wilden Nordsee und ihre Lektüre von Walter Scotts Schottland-Roman „The Heart of Midlothian“. Dabei bildet die Rungholtsage „das motivische Zentrum eines Leitmotivgeflechts, das vom Untergang alter Inseln und Küstenteile und von der Entstehung neuen Landes handelt.“[69] Andersen lässt die Magd Keike die Sage folgendermaßen erzählen:

 

Vor vielen hundert Jahren waren alle Inseln rundum eine einzige gewesen. Dann war das Meer gekommen und hatte Dörfer und Kirchen verschlungen. Die Leute waren auf Balken und Brettern im Wasser geschwommen; Wiegen mit kleinen Kindern darin trieben umher. Das Land hatte sich in viele Inseln geteilt, die immer kleiner wurden und schließlich ganz verschwanden. Föhr und Sylt waren noch lange mit einander verbunden gewesen. Es hatte da ein großes Dorf gegeben, wo gottlose Menschen lebten: Rungholt. Dort machten sich einige einen bösen Scherz, indem sie eine Sau besoffen machten und ins Bett legten. Dann schickten sie nach dem Pfarrer, er solle der Kranken die Sterbesakramente reichen. Als er sich weigerte, drohten sie, ihn ins Wasser zu werfen. Während sie grölend beratschlagten, entwischte er. Doch auf dem Heimweg traf er an einer Schenke zwei gottlose Kerle, die ihn zwangen, mit in die Schankstube zu kommen und zu erzählen, wo er gewesen sei. Als er schilderte, welchen Spott man mit ihm getrieben hatte, lachten sie und nahmen ihm die Schachtel mit dem Sakrament weg und gössen Bier hinein. „Wenn Gott da drin ist, soll er etwas zu trinken haben“, höhnten sie. Als der Pfarrer sie wiederbekam, brachte er sie in die Kirche und bat Gott, die Lästerer zu bestrafen. In der Nacht, als er im Bett lag, wurde er von unserem Herrn gewarnt, er solle das Land schnellstens verlassen. Dann kamen Sturm und Hochwasser; ganz Rungholt und sieben Kirchdörfer versanken. Nur der Pfarrer, seine Magd und zwei Jungfrauen, die beim Beten gewesen waren, überlebten. „Die Familie gibt es noch“, versicherte Keike, „es sind Bakke Boyesens. Ganz sicher wird sich Rungholt mit all seinen Bewohnern am Tag des Gerichts aus den Fluten erheben. Bei klarem Wasser kann man dort unten noch immer Häuser, Kirchtürme und Mühlen erkennen. Ich habe sie nicht selbst gesehen, weil ich die Augen schloss, aber ich hörte ein Läuten – das waren die Glocken von dort unten.“[70]

 

Die Elisabeth in Andersens Roman entwirft tatsächlich eine „kleine Novelle“, in der sie den Stoff, den ihr die Rungholtsage geliefert hat, leitmotivisch für ihre Kindergeschichte und ihre erste Liebe verarbeitet. Aber dieses „Werk“ in der Tradition Walter Scotts bleibt bloß literarische Fiktion. Erst zwei Jahrzehnte später hat Theodor Storm die Sage 1871 unter dem Eindruck des Deutsch-Französischen Krieges und der Reichsgründung in seiner Novelle „Eine Halligfahrt“ nacherzählt und sie symbolisch in die Handlung eingefügt:

 

Einst zu König Abels Zeiten, und auch später noch, stand es oben im Sonnenlichte mit seinen stattlichen Giebelhäusern, seinen Türmen und Mühlen. Auf allen Meeren schwammen die Schiffe von Rungholt und trugen die Schätze aller Weltteile in die Heimat; wenn die Glocken zur Messe läuteten, füllten sich Markt und Straßen mit blonden Frauen und Mädchen, die in seidenen Gewändern in die Kirche rauschten; zur Zeit der Äquinoktialstürme stiegen die Männer, wenn sie von ihren Gelagen heimkehrten, vorerst noch einmal auf ihre hohen Deiche, hielten die Hände in den Taschen und riefen hohnlachend auf die anbrüllende See hinab: >Trotz nu, blanke Hans!<

Aber das rotwangige Heidentum, das hier noch in uns Allen spukt, – «

»Ich bitte doch, mich freundlich auszunehmen!« schob die Geheimrätin mit etwas strammem Lächeln dazwischen.

Ich verbeugte mich zustimmend. »Es bäumte sich noch einmal auf gegen den blassen aufgedrungenen Christengott; die Männer von Rungholt – so wenigstens haben es die geistlichen Chronisten aufgeschrieben – beriefen eines Tages einen Priester und hießen ihn einer kranken Sau das Abendmahl geben. Da ergrimmte der Herr und ließ wie zu Noäh Zeiten seine Wasser steigen; und über die Deiche und Mühlen und Türme schwollen sie; und Rungholt mit seinen blonden Frauen und seinen trotzigen Männern« – und ich wies mit dem Finger rückwärts, wo noch vom Kiel unseres Schiffes das Wasser in der Sonne strudelte – »dort steht es unten, unsichtbar und verschollen auf dem Boden des Meeres. Nur zu Zeiten bei hellem Wetter, wenn in der einsamen Mittagsstunde die Wimpel schlaff am Mast herunterhängen und die Schiffer in der Koje schnarchen, dann – wie die Leute sagen – >dühnt es auf<. - Wer dann mit wachen Augen über Bord ins Wasser schaut, kann gewahren, wie Türme mit goldenen Gockelhähnen aus der grünen Dämmerung aufsteigen; vielleicht mag er sogar die Dächer der alten Häuser erkennen, und wie zwischen dem Seetang, der sie überstrickt hat, seltsam schwerfälliges Getier umherkriecht, oder zwischen den zackigen Giebeln in die Enge der Gassen hinabschauen, wo Muschelwerk und Bernstein die Tore der Häuser verbaut hat und der nie rastende Flut- und Ebbstrom mit den Schätzen versunkener Schiffe spielt. – Aber auch die Schiffer unter Deck erwachen und richten sich auf, denn unter sich aus der Tiefe hören sie es läuten; das sind die Glocken von Rungholt.«[71]

 

Im Vergleich mit der Sage verstärkt Storm den verschlingenden Charakter des Meeres, das er im Bild von der „anbrüllenden See“ während der gefährlichen Stürme zur Tagundnachtgleiche personifiziert.[72] Die stolzen Männer von Rungholt brüsten sich damit, gegen dieses Ungeheuer ihre hohen Deiche gebaut zu haben; der Erzähler weiß sich ihnen nahe, da er offenbar das „rotwangige Heidentum, das hier noch in uns Allen spukt“ mit ihnen teilt. Storm nimmt damit die Blasphemie der Männer von Rungholt zurück, und versucht, die furchtbar vergoltene schuldhafte Tat vor dem Hintergrund eines vorausgegangenen erzwungenen Religionswechsels verständlich zu machen. Damit drängt er den christlichen Gehalt der Sage deutlich in den Hintergrund; er funktionalisiert den Text, indem er die Bestrafung Rungholts als Mahnung gegen die Überheblichkeit der Menschen deutet, die ihren wirtschaftlichen Erfolg allein der eigenen Kraft zuschreiben und sich damit über jede metaphysische Ordnung hinwegsetzen.[73] Durch das genaue Hinschauen ins Meer und die andere „Wahrnehmung“ des versunkenen Rungholt kann sich der Mensch an dieses Vergehen erinnern. Aber nur der sensibilisierte Beobachter, so führt es uns der Erzähler vor, der Vergangenes mit den Ereignissen seiner Zeit in Verbindung zu setzen weiß, ist in der Lage, diese Zeichen wahrzunehmen. Ob dieser Erzähler, der auf sein nach der bürgerlichen Revolution von 1848 gescheitertes Leben zurückblickt, damit aber auch in der Lage war, sie für seine eigene Lebenspraxis fruchtbar zu machen, lässt der Autor in der Schwebe und überlässt die Deutung seinen Lesern.

 

Diese symbolische Höhe hat keine der späteren literarischen Adaptionen der Sage mehr erreicht. Nur Detlev von Liliencron (1844-1909) hat den Stoff in vergleichbarer inhaltlich und ästhetisch komplexer Weise aufgenommen und im Mai 1883 eine Ballade geschrieben, die bis heute populär geblieben ist. Der Verfassser musste während seiner Zeit als Hardesvogt von Pellworm und den Halligen mit dem Schiff zwischen der Insel und Husum über jene Stelle fahren, wo man zu seiner Zeit Rungholt vermutete. Ihn wird auch die ganz ähnliche Erfahrung angeregt haben, die Storms Erzähler in der „Halligfahrt“ dazu motiviert, von Rungholt zu berichten.

 

Trutz, blanke Hans

Heut bin ich über Rungholt gefahren,

Die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren.

Noch schlagen die Wellen da wild und empört,

Wie damals, als sie die Marschen zerstört.

Die Maschine des Dampfers schüttert' und stöhnte,

Aus den Wassern rief es unheimlich und höhnte:

                Trutz, blanke Hans.

 

Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden,

Liegen die friesischen Inseln im Frieden.

Und Zeugen weltenvernichtender Wut,

Taucht Hallig auf Hallig aus fliehender Flut.

Die Möwe zankt schon auf wachsenden Watten,

Der Seehund schon sonnt sich auf sandigen Platten.

                Trutz, blanke Hans.

 

Im Ocean, mitten, schläft bis zur Stunde,

Ein Ungeheuer, tief auf dem Grunde.

Sein Haupt ruht dicht vor Englands Strand,

Die Schwanzflosse spielt nah' Brasiliens Sand.

Es zieht, sechs Stunden, den Atem nach innen,

Und treibt ihn, sechs Stunden, wieder von hinnen.

                Trutz, blanke Hans.

 

Doch einmal in jedem Jahrhundert entlassen

Die Kiemen gewaltige Wassermassen.

Dann holt das Untier tief Atem ein,

Und peitscht die Welle und schläft wieder ein.

Viel tausend Menschen im Nordland ertrinken,

Viel reiche Länder und Städte versinken.

                Trutz, blanke Hans.

 

Rungholt ist reich und wird immer reicher,

Kein Korn mehr faßt selbst der größeste Speicher.

Wie zur Blütezeit im alten Rom,

Staut hier täglich der Menschenstrom.

Die Sänften tragen Syrer und Mohren,

Mit Goldblech und Flitter in Nasen und Ohren.

                Trutz blanke Hans.

 

Zum Feste heut klingen Cymbeln und Zinken,

Aus den Fenstern mit Tüchern die Frauen winken

Und blättern Blumen in alle die Pracht -

Die Kirchen schloß wer aber über Nacht?

Die Rungholter wollen sich selbst regieren,

Und keine Zeit mehr mit Gott verlieren.

                Trutz, blanke Hans.

 

Auf allen Märkten, auf allen Gassen

Lärmende Leute, betrunkene Massen.

Sie ziehn am Abend hinaus auf den Deich:

Wir trotzen dir, blanker Hans, Nordseeteich!

Und wie sie drohen die Fäuste ballen,

Zieht leis aus dem Schlamm der Krake die Krallen.

                Trutz, blanke Hans.

 

Die Wasser ebben, die Vögel ruhen,

Der liebe Gott geht auf leisesten Schuhen.

Der Mond zieht am Himmel gelassen die Bahn,

Belächelt der protzigen Rungholter Wahn.

Von Brasilien glänzt bis zu Norwegs Riffen

Das Meer wie schlafender Stahl, der geschliffen.

                Trutz, blanke Hans.

 

Und überall Frieden, auf See, in den Landen -

Plötzlich wie Ruf eines Raubtiers in Banden:

Das Scheusal wälzte sich, atmete tief,

Und schloß die Augen wieder und schlief.

Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen

Kommen wie rasende Rosse geflogen.

                Trutz, blanke Hans.

 

Ein einziger Schrei - die Stadt ist versunken,

Und Hunderttausende sind ertrunken.

Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,

Schwamm andern Tages der dumme Fisch.

Heut bin ich über Rungholt gefahren,

Die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren.

                Trutz, blanke Hans?[74]

 

Der Dichter entwirft in seiner Ballade ein Bild von Rungholt und seinen Menschen, das eher auf eine antike Hochkultur passen würde; ja er vergleicht den Reichtum der Menschen mit dem des „alten Rom“ und beschwört das Bild einer Großstadt mit Kornspeichern und Gassen, durch die sich die reichen Bewohner auf Sänften von Gold geschmückten „Syrern und Mohren“ tragen lassen. Damit rückt Liliencron jene Elemente in den Vordergrund, die ältere Chronisten von Vineta nach Rungholt übertragen haben. Durch die übertriebene Größe des sagenhaften Ortes wird auch die Katastrophe ins unermessliche gesteigert. „Viele reiche Länder und Städte versinken“; die Zahl der Menschen wird von „Viel tausend“ zu „Hunderttausende“ in der letzten Strophe vergrößert.

Liliencron beschreibt das Meer als „Untier“, das einmal im Jahrhundert gewaltige Wassermassen über die friedliche Hallig- und Inselwelt ausschüttet, und personifiziert die Sturmflut zu einem riesigen Fisch, der in seiner Ruhephase gefährlich wie ein geschliffener Stahl wirkt. Die „langmähnigen“ Wogen vergleicht er mit dem Bild von „rasenden Rossen“. Die Naturgewalt wird in einer umfassenden Vision von der Welt beschrieben; von Friesland über England bis nach Brasilien dehnt sich das Meer, das zum Kraken und dann zum Raubtier wird. Die Ballade lebt von extremen Kontrasten; hier das friedliche Land mit dem lustigen, prallen Leben, dort die alles vernichtende Flut. Der Grund für den Untergang liegt in der Überheblichkeit des Menschen, nicht in einem Frevel wie in der Sage, sondern im Reichtum, den die Menschen in „protzigen Rungholter Wahn“ zur Schau tragen. Im Taumel ihrer Feste ziehen die trunkenen Massen trotzig zum Deich und rufen höhnisch und verächtlich: „Wir trotzen dir, blanker Hans, Nordseeteich!“ Bei so viel Hybris kann die Natur zu Recht „empört“ sein. Liliencron beschwört kein Gottesgericht herauf, sondern eine Macht, die zunächst schläft, dann aber „wild und empört“ als „weltenvernichtende Wut“ erscheint, also doch als Weltgericht einer säkularen Naturinstanz strafend in Aktion tritt. In der letzten Strophe variiert er den jede der 9 Strophen abschließenden einzeiligen Refrain durch ein Fragezeichen: „Trutz, Blanke Hans?“ und deutet damit aus einer Zeit des Fortschrittsoptimismus voraus in eine Zukunft, in der den Menschen der Kampf gegen die Natur um jeden Preis fraglich werden wird. In ähnlicher Weise kann man auch die 1888 fertig gestellten Novelle „Der Schimmelreiter“ seines Vorbildes Theodor Storm lesen.

Es hat weitere, literarisch weniger bedeutende und weniger publikumswirksame Bearbeitungen des Sage im 20. Jahrhundert in Gedichtform[75], als Erzählung[76] und Roman[77] gegeben; in seinem „Rungholt“ benannten Oratorium für Chor, Sprecher und Orchester (CD, Hamburg 2003) hat Jakob Vinje neben der Sage Texte von Heinrich Heine, Theodor Storm, Theodor Fontane, Detlev von Liliencron, Rainer Maria Rilke und Wolfgang Borchert zusammengestellt. Die Faszination, die von dem Sagenkomplex ausgeht, der sich um den Namen Rungholt kondensiert hat, wirkt bis in die gegenwärtige Unterhaltungsliteratur fort.[78]

 

 

Anmerkungen 


[1] Zuerst gedruckt in: Nordelbingen. 74.2005, S. 113-143; der Text wurde um einen Abschnitt zu Hans Christian Andersen erweitert.

[2] Von den Sammlungen hier nur ein paar Beispiele: Gundula Hubrich-Messow (Hg.): Sagen aus Schleswig-Holstein. München 1993. – Jurjen van der Kooi (Hg.): Friesische Sagen. München 1994. – Jurjen van der Kooi (Hg.): Der Ring im Fischbauch. Sagen aus Nordfriesland. Leer 1998. – Schleswig-Holsteinisches Sagenbuch aus der Müllenhoffschen Sammlung, hg. von Frank Trende. Heide 2002.

[3] Zur Rungholt-Sage vergl.: Otto Hartz: Die Rungholtsage bei den nordfriesischen Chronisten. In: Jahrbuch des Heimatbundes Nordfriesland 1933, Bd. 20, S. 80-87. – Andreas Busch: Die Rungholtsage und die Lagebestimmung Rungholts nach Matz Paysen. In: Jahrbuch des Heimatbundes Nordfriesland 1938, Bd. 25, S. 25-31. – Jörn Hagemeister: Rungholt. Sage und Wirklichkeit. Hamburg 1979. – Hans-Herbert Henningsen: Rungholt. Der Weg in die Katastrophe. Bd. I. Husum 1998. (Ein Gedicht und eine Sage, S. 10-21; 137f.)

[4] Vergleiche dazu die ausführliche Darstellung bei Hans-Herbert Henningsen, S. 14ff.

[5] Zum historischen Rungholt vergl.: Andreas Busch: Die Entdeckung der letzten Spuren Rungholts. In: Jahrbuch des Nordfriesischen Vereins für Heimatkunde und Heimatliebe Jg. 1923, H. 10, S. 3ff. sowie Albert Panten: Rungholt – Rätsel im Wattenmeer. Erkenntnisse zu einem legendären nordfriesischen Thema. In: Nordfriesland 116, Dezember 1996, S. 10-13.

[6] Karl Müllenhoff (Hg.): Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845. Eine erweiterte Auflage besorgte Otto Mensing (Schleswig 1921), von der ein fotomechanischer Nachdruck (Kiel, 4. Aufl. 1985) vorliegt.

[7] Gottfried Heinrich Handelmann: Nachträge und Zusätze zu Müllenhoff’s Märchen, Sagen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. In: Jahrbücher für die Landeskunde der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg, Bd. 1 (1858) bis Bd. 10 (1869). – Wilhelm Wisser: Plattdeutsche Volksmärchen, 2 Bde. Jena 1914, 1927. – Kurt Ranke: Schleswig-holsteinische Volksmärchen. 3 Bde. Kiel 1955/1958/1962; Bd. 4, hg. von Gundula Hubrich-Messow, Husum 2000.

[8] Karl Müllenhoff (1818-1884) lehrte als Privatdozent an der Universität Kiel und wurde dort zum Professor für Literatur ernannt, später nahm er einen Ruf an das altphilologische Seminar der Universität Berlin an; vergl. Frank Trende (Hg.): Karl Müllenhoff. Ein Lebensbild von Wilhelm Scherer. Heide 1991, S. VIIff. Müllenhoffs umfangreicher Nachlass wird im Archiv der Humboldt-Universität, Berlin, aufbewahrt und ist weitgehend noch unerschlossen.

[9] Theodor Storm wurde 1817 in Husum geboren und studierte in Kiel und Berlin Jura. Nach seinem Examen arbeitete er als Rechtsanwalt in seiner Vaterstadt, sammelte Märchen und Sagen und schrieb Gedichte und Erzählungen. Nach seinem Engagement für die Schleswig-Holsteinische Bewegung verließ er 1853 seine Heimatstadt und war in Potsdam und danach in Heiligenstadt als Richter tätig. 1864 kehrte er als bereits bekannter Schriftsteller nach Husum zurück, wirkte hier als Landvogt und später wieder als Richter. Er starb 1888 in Hademarschen.

[10] Theodor Mommsen wurde am 30. November 1817 in Garding geboren. Während seines Studiums in Kiel, das er gemeinsam mit seinem Bruder Tycho absolvierte, schlossen die beiden Freundschaft mit Theodor Storm und einigen anderen Studenten, die eine Gruppe Gleichgesinnter bildeten. Nach einer Frankreich- und Italien-Reise (1844-1847) engagierte sich Mommsen während der Schleswig-Holsteinischen Erhebung als Redakteur der „Schleswig-Holsteinischen Zeitung“, für die auch Storm Beiträge lieferte. Anschließend schlug Mommsen eine Hochschul-Laufbahn ein und wurde Professor für römisches Recht und römische Geschichte an renommierten europäischen Universitäten. Als Reichstagsabgeordneter vertrat er in Gegnerschaft zu Bismarck demokratische und nationalliberale Ideale. Für sein Hauptwerk „Römische Geschichte“ (5 Bde 1854-1856; 1865) wurde ihm 1902 der Nobelpreis für Literatur verliehen. Mommsen starb am 1. November 1903 in Berlin.

[11] Deutsche Sagen. Hg. von den Brüdern Grimm. Berlin 1816, S. IX ff. (Ein solcher Band stand in Storms Bibliothek.) Zur heutigen Einschätzung der Tätigkeit der Brüder Grimm vergl.: Lutz Röhrig: Die „Deutschen Sagen“ der Brüder Grimm. In: L. R.: Sage und Märchen. Erzählforschung heute. Freiburg 1976, S.44-58.
Weitere Literatur: H. Grund: Sagen und Sagenforschung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Fabula 29 (1988), S.1-20. – Wolfgang Seidenspinner: Sagen als Gedächtnis des Volkes? Archäologisches Denkmal, ätiologische Sage, kommunikatives Erinnern. In: Erinnern und Vergessen. Vorträge des 27. Deutschen Volkskundekongresses. Göttingen 1989, S. 525-534.

[12] Leander Petzoldt: Einführung in die Sagenforschung. Konstanz, 3. Aufl. 2002, S. 14f.

[13] Theodor Storm: Anekdoten, Sagen, Sprichwörter und Reime aus Schleswig-Holstein. Texte, Entstehungsgeschichte, Quellen. Unter Berücksichtigung der von Theodor Mommsen beigetragenen Sagen nach den Handschriften und Erstdrucken herausgegeben von Gerd Eversberg. Heide 2005.

[14] Gerd Eversberg: Neues zu Storms frühen Schreibexperimenten. Mit den frühesten Briefen Storms und einem bisher unbekannten Prosatext aus dem Jahre 1835. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 54.2005, S. 27-63.

[15] J. Laß: Fortsezung der Samlung einiger Husumischen Nachrichten, welche de Anno 1701. biß 1750. Junii inclusiue, aus vielen Nachrichten zusammengetragen, und zu Folge der von der Allerhöchsten Herrschaft erlangten Allergnädigsten Bewilligung dem Druck übergeben worden von J. Laß/ Adv. Ord. Husum. Flensburg, gedruckt durch C. F. Holwein 1750. – Ders.: Sammlung Husumscher Nachrichten, Zweyter Fortsetzung, 8 Stücke, nebst Register. Flensburg 1752. – Ders.: Nachricht, von der jezigen Beschafenheit und dem jezigen Zustande des merckwürdigen Heiligen- oder Helgo-Landes. Flensburg 1753. (Exemplare stehen in der Bibliothek der Husumer Gelehrtenschule, heute Hermann-Tast-Schule, Husum.)

[16] Nord-Fresische Chronick [...] Durch M. Antonium Heimreich [...]. Schleßwich 1666. – M. Antoni Heimreichs Ernewrete NordFresische Chronick.[Schleswig] Außgegeben Anno 1668. – M. Anton Heimreichs, weyl. Prediger auf der Insel Nordstrandisch-Mohr, nordfresische Chronik. Zum dritten Male, mit den Zugaben des Verfassers und der Fortsetzung seines Sohnes, Heinrich Heimreich, auch einigen andern zur nordfresischen Geschichte gehörigen Nachrichten vermehrt herausgegeben von Dr. N. Falck, Professor des Rechts in Kiel. 1. Theil; 2. Theil. Tondern 1819. In der Müllenhoffschen Sammlung sind sämtliche aus der Nordfriesischen Chronik von Heimreich stammenden Texte mit dem Hinweis „Heimreich ed. Falk“ versehen. In Storms Bibliothek befindet sich die zweite Auflage von 1668, die er aus der Familie seiner Mutter übernahm. Als er sich in den Jahren nach 1842 mit der Sammlung von Sagen beschäftigte, benutzte er die Edition von Falck, die er aus der Bibliothek der Husumer Gelehrtenschule entlieh; diese beiden Bände hat Storm auch später mehrfach als Quellen benutzt, so 1886 für die Novelle „Der Schimmelreiter“.

[17] Niedersächsisches Staatsarchiv, Oldenburg, Nachlass Wilhelm Wisser. Wisser hatte eines oder beide der von Storm an Müllenhoff weitergegebenen handschriftlichen Sagenhefte aus dem Müllenhoff-Nachlass des Archivs der Humboldt-Universität zu Berlin ausgeliehen und im Februar 1921 an Otto Mensing nach Kiel geschickt. Auf einem Notizzettel (Mappe „Müllenhoff“) verzeichnete er einige Stücke, die er in Storms Handschrift vorgefunden hatte, darunter auch Exzerpte aus der Chronik Heimreichs in der Edition von Falck. Der Verbleib dieser Handschrift ist unbekannt.

[18] Müllenhoff übernahm den Text und druckte ihn als Nr. 170 (S. 129).

[19] Vergl. Brief Mommsens an Storm vom 10.11.1843: „Ich habe die Durchsicht der Provinzialberichte vorläufig übernommen; mit der sonstigen Literatur, namentlich mit der älteren, ist Müllenhoff eifrig beschäftigt und wird von meinem Bruder dabei unterstützt werden. Wollen Sie auch etwas zur Durchsicht übernehmen, z.B. das Husumer und andere Wochenblätter, so wäre dies sehr erwünscht.“ Theodor Storms Briefwechsel mit Theodor Mommsen. Hg. von Hans-Erich Teitge. Weimar 1966. Diese Edition enthält im Vorwort eine ausführliche Darstellung der Zusammenarbeit Mommsens, Müllenhoffs und Storms bei der Sammlung Schleswig-Holsteinischer Sagen.

[20] Karl Leonhard Biernatzki, geb. 28.12. 1815 in Altona, gestorben 23.1.1899 ebd., ev. Theologe, Schriftsteller und Publizist, studierte nach seiner Schulzeit in Altona und Hamburg evangelische Theologie in Kiel, Berlin und Erlangen; 1840 als Theologe in Glückstadt examiniert, wurde er im Mai 1841 interimistischer Rektor der Schule in Friedrichstadt, Kreis Schleswig, am 12.9. 1844 dann Rektor dieser Schule. Als Herausgeber des „Volksbuchs für die Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg“ (erschienen 1843-1850 für die Jahre 1844-1851) verfasste B. geschichtliche und kulturhistorische Beiträge; in der redaktionellen Arbeit unterstützte ihn sein Bruder Jürgen Hermann Biernatzki (geb. 23.3. 1818, gest. 11.9. 1898), der als Advokat in Altona wirkte. Mit den Volksbüchern schuf Biernatzki ein regionales, auf den deutsch- und friesischsprachigen Kulturraum beschränktes Forum für belletristische und landesgeschichtliche Beiträge mit nationaldeutscher Ausrichtung. Bedeutender Mitarbeiter war Theodor Storm, der in den Volksbüchern über 40 Gedichte, eine Reihe von Schwänken und Sagen sowie vier Erzählungen, darunter die erste Fassung von „Immensee“, veröffentlichte.

[21] So finden sich Exzerpte aus Heimreichs und Laß’ Chroniken in den Kalendarien der Volksbücher für 1847 und 1849, von denen einige Storm geliefert hat. Handschriftliche Notizen, die er in Schützes Holsteinisches Idiotikon eingetragen hat sowie diverse Anstreichungen ausgewählter Sagentexte belegen, dass Storm auch die Bibliothek der Husumer Gelehrtenschule benutzt hat; in ihr konnte er auf alle einschlägigen Quellensammlungen zur Geschichte der Herzogtümer und vor allem zur Geschichte Nordfrieslands und Dithmarschens zugreifen. Eine wichtige Quelle war: Holsteinisches Idiotikon, ein Beitrag zur Volkssittengeschichte; oder Sammlung plattdeutscher, alter und neugebildeter Wörter, Wortformen, Redensarten, Volkswitzes, Sprüchwörter, Spruchreime, Wiegenlieder, Anekdoten, und aus dem Sprachschatze erklärter Sitten, Gebräuche, Spiele, Feste [...] von Johann Friedrich Schütze. 4 Theile, Hamburg 1800, 1801, 1802 und 1806.

[22] Gerd Eversberg: Theodor Storms Schulzeit. Die Neuorganisation der Husumer Gelehrtenschule in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts unter Rektor Peter Friedrichsen. In: Beiträge zur Husumer Stadtgeschichte 2006, Band 10, S. 8-34.

[23] Dies kann man an drei modernisierenden Eingriffen des Herausgebers Falck in den ursprünglichen Text erkennen, die auch in die Müllenhoffsche Sammlung übernommen wurden.

[24] Erstdruck: Müllenhoff (Hg.): Sagen, Märchen und Lieder, S. 130f. als Nr. 173. Müllenhoff druckt den Text mit dem Hinweis: „Heimreich I. 250. vgl. 172. 182. 204. und Herr Hansen auf Silt nach noch währender, fast völlig übereinstimmender Ueberlieferung. – Heimreich deutet diese Sage Bd. I. 86. bei einer Fluth vom Jahre 716 an. Ein Fechter soll damals das Sakrament entheiligt haben. – Ein Ritter auf dem Flensburger Schloß zwang den Prediger, einer Sau das Abendmahl zu reichen. Sein Schloß versank in den blauen Damm; so auch eines Junkers Burg Braaborg im Kirchspiel Ulderup. – Das alte Plön lag zwischen der jetzigen Stadt und Ruhleben, erzählt man, an einem Hügel am See, der der hohe Berg heißt. Fischer sehen die Stadt noch oft im Wasser.“

[25] Christian Peter Hansen (1803-1879) war publizistisch rege tätig; seine Sagen-Sammlung hat er für das Müllenhoffsche Projekt zunächst an Storm in Husum geschickt. Später sandte er ein weiteres Manuskript direkt an Müllenhoff in Kiel. Vergl. Manfred Wedemeyer: C. P. Hansen - Der Lehrer von Sylt. Eine Biographie des Heimatkundlers und Malers. Schleswig 1982. Seine Texte wurden nicht in der Fassung der Handschriften veröffentlicht, sondern vom Herausgeber der schleswig-holsteinischen Sammlung für die Konstituierung einer Reihe von Sagen verwendet. Später hat Hansen mehrfach literarische Bearbeitungen dieser Sagen zum Druck gebracht; ausführliche Literaturhinweise bei Wedemeyer. Briefe an Hansen im Zusammenhang mit seiner Sammeltätigkeit werden von der Söl’ring Foriining, Keitum (Sylt), aufbewahrt.

[26] Heimreich (Edition von Falck), (1), Bd. 1, S. 240, 250-253; (2), Bd. 1, S. 182; (3), Bd. 2, S. 134.

[27] Im XIII. Kapitel seiner Chronik erzählt Heimreich von der Sturmflut von 1634 und berichtet – um den Namen „Sündenfluth“ zu erklären – von der Überzeugung der Marschbewohner, der Deich sei sicher; Heimreich (Ed. Falck), Bd. 2, S. 134. Dieser Abschnitt fehlt in der 1. Auflage seiner Chronik (1666) und ist erst in der 2. Auflage (1668) enthalten.

[28] C.P. Hansen, Sagenmanuskript im Müllenhoff-Nachlass (Archiv der Humboldt-Universität Berlin). Kopie im Storm-Archiv Husum.

[29] Hierbei handelt es sich um ein Exzerpt aus Jonas Hoyers historischer Beschreibung der Insel Nordstrand, bis auf das Jahr 1624. In: Vermische historisch-politische Nachrichten in Briefen von einigen merkwürdigen Gegenden der Herzogthümer Schleßwig und Hollstein [...] gesammlet von Johann Friedrich Camerer. Zweyter Theil. Flensburg 1762, S. 764f. Der Text ist enthalten in C. P. Hansen: Nachtrag zu den Sagen und Erzählungen der Nordfriesischen Inselbewohner von C. P. Hansen auf Sylt. (Manuskript; Archiv der Humboldt-Universität Berlin, Müllenhoff-Nachlass)

[30] Vermischte historisch-politische Nachrichten [...] gesammlet von Johann Friedrich Camerer Zweiter Theil. Flensburg 1762, S. 295.

[31] Caspar Danckwerth/ Johannes Mejer: Newe Landesbeschreibung Der zwey Hertzogthümer Schleswich und Holstein […]. Schleswig 1652.

[32] Albert Panten: 1000 Jahre Deichbau in Nordfriesland? In: Hans Joachim Kühn und Albert Panten: Der frühe Deichbau in Nordfriesland. Archäologisch-historische Untersuchungen. Bredstedt 1989, S. 103.

[33] Knut Lorentzens denkwürdige Geschichten 1095-1627. In: Neues Friesisches Archiv 1, Bredstedt 2003, S. 85.

[34] Matthiæ Pampi Beschreibung von Eyderstett. In: Exercitationes Histotricae. Autore Petro Saxo scriptae A<nno> 1657. In: Ernestus Joachimus de Westphalen: Monumenta inedita Rerum Germanicarum präcipue Cimbricarum, […]. Tomus II, Leipzig 1740, Sp. 1229-1260. Westphalen wird in Müllenhoff Sagensammlung mehrfach als Quelle genannt.

[35] Vergleiche dazu die ausführliche Darstellung bei Hans-Herbert Henningsen: Rungholt. Der Weg in die Katastrophe.

[36] Heimreich (Ed. Falck), Bd. 2, S. 134.

[37] Albert Panten: Rungholt – Rätsel im Wattenmeer. Erkenntnisse zu einem legendären nordfriesischen Thema. In: Nordfriesland 116, Dezember 1996, S. 10-13.

[38] Vergl. Panten in Hagemeister 1979 (wie Anm. 2). „Edemizherde p<ar>rochia Rungeholte judices c<on>siliarij iurat<i> Thedo bonisß cu<m> h<ere>dib<us>”. Panten übersetzt: „Edomsharde Kirchspiel Rungholt Richter, Ratsleute, Geschworene Thedo Bonisson samt Erben”.

[39] 1547 hat Johannes Russe aus Lunden eine Abschrift angefertigt, die Grundlage für die erste Edition von A.L.J. Michelsen war. Textauszüge nach der Edition Chronicon Eyderostadense vulgare oder die gemeine Eiderstedtische Chronik 1103-1547 von Johannes Jasper mit einer Übersetzung ins Hochdeutsche von Claus Heitmann. St. Peter-Ording 1977, (1) S. 24f.; (2) S. 26f.

[40] Annales Episcoporvm Slesvicensivm […] a Iohanne Adolpho Cypraeo Slesuicensi. Worringen 1634, S. 338f.

[41] Leander Petzoldt: Einführung in die Sagenforschung. Konstanz, 3. Aufl. 2002, S. 58f.

[42] Zu den Anekdotenbüchern des 13. Jahrhunderts gehört der „Dialogus miraculorum“ des Caesarius von Heisterbach; es enthält Exempla, kurze lehrhafte Geschichten von oft wunderbarem Inhalt. Caesarii Heisterbacensis Monachi Ordinis Cisterciensis Dialogus miraculorum, ed. Josophus Strange. Koblenz 1851, Bd.2, S. 4.

[43] De plaga Frisiae ob iniuriam Dominici corporis
Parvo post haec emerso tempore, anno videlicet gratiae millesimo ducentesimo decimo octavo, mare in partibus Frisiae terminos suos egrediens, multarum provinciarum terras occupavit, villas delevit, ecclesias lapideas deiecit, tantam hominum extinguens multitudinem, ut summa centum millia transcenderet. Ita exaltati sunt fluctus eius, ut turrium altitudines operire viderentur, et procella procellam impellens, generale diluvium terris minaretur. Et sicut dictum fuit Abbati nostro, cum eodem anno visitationis gratia Frisiam intrasset, quod fluctus furentes etiam usque Coloniam pervenissent, si non is qui eos excitaverat, Genitricis suae, ut postea dicetur, precibus compescuisset. NOVICIUS: Nosti causam tantae plagae? MONACHUS: Novi. Friso quidam arte pugil in eadem provincia exstitit, qui quotiens de taberna ebrius rediit, totiens uxorem verberibus et plagis satis tribulavit. Tempore quodam timore mariti infirmitatem simulans, ne simulatio eadem posset notari, corpus Domini sibi dari postulavit. Venienti sacerdoti pugil cum scypho cervisiae ebrius occurrens, bibere eum monuit. Et cum ille responderet: Corpus Domini porto, non modo bibam; iratus Friso cum scypho pixidem percussit, et omnes hostias de illa excussit, ita ut per pavimentum dispergerentur. Matronae vero, quae consolationis gratia convenerant, super singulas hostias tanquam stellas radiantes viderunt. Quas sacerdos gemens ac dolens in pixidem recollegit et abiit. Friso vero a Decano provinciae citatus, excommunicatus est, sed non curavit. Qui tandem ad hoc compulsus est, ut cruce pro tanto sacrilegio signatus cum iam dicto sacerdote etiam cruce signato veniret Romam. Cui dominus Honorius Papa culpam confitenti pro poenitentia iniunxit, ut mare transiret, ibique tribus annis in armis Christo serviret. Quid plura? Mare transierunt ambo, et ante Damiatam mortui sunt ambo. Quibus defunctis, cum anno eodem Dominus provinciam terribiliter, ut supra dictum est, plagasset, et causa plagae populum lateret, matronae cuidam valde religiosae, Domino ieiuniis, orationibus, vigiliis et elecmosynis servienti, materterae videlicet domini Witboldi Abbatis sancti Bernardi, beata Dei Genitrix, lacrimis eius mota, populique miserta, apparens sic ait: Propter iniuriam filii mei in sacramentum corporis eius factam, submersa est Frisia, et adhuc amplius plagabitur, si condigna poenitentia non fuerit subsecuta. Ex quibus verbis colligitur, quod non solum pugilis, sed communibus populi peccatis exigentibus, hoc evenerit. Moxque adiecit mater misericordiae: Leva oculos tuos contra mare. Quod cum fecisset, contemplata est pixidem a pugile percussam, in summitate fluctuum natantem. Quae cum in tantum approximasset, ut posset cognosci, ait: Ecce corpus filii mei. In loco enim ubi dispersum est, aedificanda et ecclesia, et debet ei tanta exhiberi reverentia, quomodo sepulchro Dominico. Hoc etiam noveris, quod ambo rnortui sunt, pugil scilicet et sacerdos. Sed pugil, eo quod sine contritione obierit, sepultus est in inferno; sacerdos vero adhuc tenetur in purgatorio. Retulit tamen nobis Theodericus Prior de Yesse, eundem pugilem, quantum ad signa exteriora, cum proficisceretur, satis magnam habuisse contritionem; sed credendum est beatae Dei Genitrici. Hac visione cognita, dominus Theodericus Episcopus Monasteriensis, ad cuius Dioecesim maxima pars Frisiae pertinet, missis litteris suis per Ydidam sancti Bernardi cellerarium, sicut nobis ipse retulit, sollemnem provincialibus poenitentiam iniunxit. Quod autem insufficiens fuerit, ex hoc probatur, quod anno praeterito denuo punita est Frisia, multis millibus per aquarum inundationes submersis. Matrona quaedam praedives ex praedicti pugilis domo ecclesiam aedificavit. Ex his quae dicta sunt, considerare potes, quam sollicita sit circa hominum salutem beata Virgo Maria, cui tanta cura exstitit de poenitentia. Quod vero tribulatorum sit consolatrix, sequentia declarabunt.
Es folgt die Geschichte einer Kirchengründung an dem Ort, wo die Hostienkapsel von der Flut ans Land gespült wurde. Der böse Boxer, heißt es, sei in die Hölle gekommen, der Priester nur ins Fegefeuer. Übersetzung: Helmut Quack, Husum.

[44] Heimreich (ed. Falck), Bd. 1, S. 87. In seinen Anmerkungen weist Müllenhoff auf diese Stelle hin: „Heimreich deutet diese Sage Bd. I. 86. bei einer Fluth vom Jahre 716 an. Ein Fechter soll damals das Sakrament entheiligt haben.“

[45] Vergl. hierzu Albert Panten: Einleitung. In: Peter Sax. Werke zur Geschichte Nordfrieslands und Dithmarschens. Bd. 3. St. Peter-Ording 1984, S. IX-XII. Für vielfältige Auskünfte und für die Überlassung von Quellen sowie von Forschungsergebnissen danke ich Albert Panten, Niebüll. Ohne seine ausführlichen Quellenstudien hätte dieser Aufsatz nicht geschrieben werden können.

[46] Neues Europäisches Historisches Reise-Lexikon. Leipzig 1744, Sp. 982. Der „Buttermilchturm“ wurde um 1435-40 erbaut und spielt eine Rolle in einem von Simon Grunau (gestorben 1529) berichteten Schwanks übermütiger Bauern aus Groß-Lichtenau. Johann Georg Theodor Grässe erzählt in seinem Sagenbuch des Preußischen Staats, 2 Bde, Glogau 1868/71, hier Bd. 2, S. 599f. die Sage Nr. 634 „Die Bauern von Lichtenau und ihre Streiche“ folgendermaßen: „Diese Bauern hatten einen frommen und gelehrten Pfarrherrn, Wolfram Lindaw genannt, der strafte sie oft in seinen Predigten, zeigte ihnen Gottes Zorn und zukünftige Strafe an, dies nahmen sich die Bauern zu Herzen, gedachten ihm es deshalb zurückzuzahlen, baten ihn zu Köstungen, Kindelbieren, Pfingst- und St. Johannisbier etc., aber er wollte niemals kommen. Nach dem Tode Conrads des Hochmeisters tranken sie ihr Gildebier, und es war die Sitte, daß, wenn eine Tonne aus war, man sie mit den Hefen ins Haus trug. Zur letzten Collation kömmt eine große Sau ins Haus unter die Tonne, wirft sie um und säuft sich an den Hefen so voll, daß sie liegen blieb, die Bauern nahmen sie und legten sie in einer finstern Kammer ins Bett, schickten dann zum Pfarrherrn und ließen ihn bitten, weil eine Person plötzlich und schwer krank geworden sei, solle er kommen und sie beichten. Als er kam, führten sie ihn in die finstere Kammer, sagten, der Kranke könne das Licht nicht leiden; die Sau liegt da auch noch, der Pfarrer aber merkt der Bauern teuflisches Vorhaben, denn sie dachten, so er sie im Kruge strafe, wollten sie es ihm redlich bezahlen. Aber er heißt sie ein wenig auf die Seite gehen, als ob er die Beichte hören wolle, nimmt die gesegnete Hostie heimlich zu sich in den Busen, läßt das leere Gehäuse stehen und sagt: »Lieben Kinder, die Person ist sehr schwach, ich kann ihr kein Wort abgewinnen, ich will hin und die heilige Oelung holen, vielleicht mag Gott ihr Gnade verleihen.« Das sind die Bauern zufrieden, er aber setzt sich auf sein Pferd und reitet zum Newenteich zu, findet allda Bruder Andreas von Weitzellen, Hauskomthur von Marienburg, dem erzählt er es. Der Hauskomthur kommt bald mit vier Knechten hin, findet den Glöckner noch mit dem Glöcklein vor dem Bette knieen, die Bauern aber sitzen beisammen und saufen, er aber schlug und hieb auf sie los. Die Bauern aber bekamen die Oberhand, nahmen den Hauskomthur und pflöckten ihn mit seinem langen Barte in ein Luftloch über die Stubenthüre und ließen ihn also hängen, die Knechte aber liefen hinaus, sprangen auf ihre Pferde und jagten nach Marienburg zu, brachten das ganze Hofgesinde auf und umringten den Krug, nach vielem Morden fingen sie die Bauern alle und führten sie nach Marienburg, wo ihrer viele im Gefängniß starben. Die andern mußten den hohen runden Thurm am Nogat bauen, den man den Butter(milchs)thurm heißt, denn da er fertig geworden war, hatten sie ihn mit Butter(milch) statt Mörtel begossen, wovon er der Butterthurm heißt. Sie hatten sich erboten, den Weg von Groß- Lichtenau bis gen Marienburg mit guten alten Groschen zu belegen, ob er wohl eine große Meile lang ist, so man ihnen erlassen wolle, den Thurm zu bauen.“ Als Quelle diente ihm die Chronik von Caspar Hennenberger, Königsberg 1595, der den Schwank nach Simon Grunaus Preußischer Chronik (um 1520) erzählt. Die Geschichte von der trunkenen Sau könnte bis ins späte 14. Jahrhundert zurückreichen.

[47] Will auerst eine mercklike Historye hyrher setten / wo Godt der HEre vorachtinge synes Wordes vnde syner Dener gestraffet / de sick vast vmme den anuanck der gelutterden Euangeleschen warheit hyr im Lande an der Seekante hefft thogedragen. Idt hefft ein ryck Drunckenbolte vnd auermödich Man einen Prediger yegen den inuallenden auendt halen laten / dat he ehme scholde einen krancken im huse berichten / vnd eer de Prediger kümpt / leth he eine Söge int Bedde legen /darhenne wyset he den Prediger / do de quam. Nu geit he hen/ meint ydt sy ein krancke dar / richtet tho / vnde do he thosüth / licht eine Söge im Bedde /geit mit vngedult wech / beuelet den schimp / vnde bewysede auermodt / dem yennen/dem he anginck. Alse Moises ock tho synen halstarrigen Joden sprack: Wat syn wy? Juwe murrent ys nicht wedder vns / sunder wedder den HEren. Also ys hyr ock gescheen / Wenthe he weth sick meisterliken an synen vyenden vnde vorachteren tho wrekende / vnd js nicht allene düsse Spötter vnd vorachter Gödtlikes Testamentes / sunder ein gantz klein ort Landes dorch de Floth vndergangen / vnde hefft de schüldige mit den vnschüldigen herholden möthen. Wowol thogelöuende / dewyle an dem orde vülle des Brodes vn aller dinge auerfloth gewesen / welckes denn eine anreitzinge tho der vorachtinge Gades vnd synes heilwerdigen Wordes ys / ydt werden des spotters gelike vele in dem Landeken gewesen syn / Noch hüden in düssen dach kan men seen de rudera vnde warteken der Kercken vnde Hoffstede / dar desüluigen auermödigen lüde gewanet hebben / daruth denn de Töuerschen vnd alle vorachter des hilligen Ministerij seen mögen / wo swär ydt sy / yegen den Prekel vththoslande.
Samuel Meigerius: De panvrgia lamiarvm, sagarum, strigum ac veneficarum, totiusque; cohortis Magicae cacodaemona libri tres. Dat ys: Nödige und nütte vnderrichtinge von der Zauberre und Hexen geschwinde List und ihrer teuflischen Sünde [...] III. Vnde, Wo eine Christlike Quericheit mit sodanen gemeinen Fienden Minschlikes geslechtes vnmeghan schöle. [...]. Hamborch 1587, S. 115f.

[48] (S. 143,1: 12 betr.): Diese Ergänzungen wurden nur teilweise in der 3. Auflage von Falck berücksichtigt; diese Notiz hat keinen Eingang gefunden; vergl. Albert Panten in seinem Vorwort zu Peter Sax: Descriptio, Insulae Nordstrandiae, Eine Beschreibung der Insul, vnd Landes Nordstand. [1637]. Werke zur Geschichte Nordfrieslands und Dithmarschens, Bd. 3, hg. von Albert A. Panten. St. Peter-Ording 1984, S. XII.

[49] Albert Panten: Einleitung. In: Peter Sax. Werke zur Geschichte Nordfrieslands und Dithmarschens. Bd. 3. St. Peter-Ording 1984, S. IX-XII. Ders.: Deiche und Sturmfluten in der geschichtlichen Darstellung Nordfrieslands. In: Deichbau und Sturmfluten in den Frieslanden. Bredstedt 1992, S. 13-19. Vergl. auch die im Detail unübersichtliche Darstellung bei Hans-Herbert Henningsen: Rungholt. Der Weg in die Katastrophe. Bd.1, Ein Gedicht und eine Sage, S. 10-21; 137f.)

[50] Peter Sax: Stam Bäume Etlicher Friesischen Eiderstettischen Geschlechte. Herausgegeben nach der Handschrift von 1655. Werke zur Geschichte Nordfrieslands und Dithmarschens, Bd. 2, hg. von Albert A. Panten. St. Peter-Ording 1983, S. XXIX.

[51] Albert Panten: 1000 Jahre Deichbau in Nordfriesland? In: Hans Joachim Kühn und Albert Panten: Der frühe Deichbau in Nordfriesland. Archäologisch-historische Untersuchungen. Bredstedt 1989, S. 63-127; S. 103.

[52] Westphalen druckt 1740 in den „Monumenta inedita“ eine „Beschreibung von Eyderstett“ ab, die von Matthias Pampus stammt. Diese Edition bietet zunächst den deutschen Text von Pampus, den Peter Sax 1657 (die Dedicatio ist 1660 in Coldenbüttel entstanden) ins Lateinische übersetzt und anschließend in lateinischer Sprache kommentiert. Peter Sax übersetzt: „Deus exardescebat ira, et die Michael. curabat horrendam diluviem; in qua oppidum Runghold perditum terræ hiatu absorptum; multi homines; pecora et septem perociæ vastatæ sunt, salvus tamen evasit sacerdos, ejus ancilla et tres virgines, quæ ad Missam, in Bupschluet profectæ erant.“ Er kommentiert die Formulierung „terrae hiatu absorptum“ folgendermaßen: „Multæ narratiunculæ de interitu Runghold circumferuntur; de quibus vide Matth. Boëth. de Catacl. Nordtstr. f. 88. Sed vera est illorum sententia, qui existimant, oppidum Runghold gravissima aliqua illuvie inundatum, et conquassatum: et cum incolæ restaurandis aggeribus defensitandisque agris et habitaculis propter continentes ærumnas, labores et sudores essent impares, tandem pro derelicto habitum et oceano traditum. Et in ipso oppido Runghold et in adiacentibus paræciis.“
[Übersetzung]: Es kursieren viele Geschichten über Rungholts Untergang [Hinweis auf den Kommentar von Boetius]. Wahr aber ist die Ansicht der Leute, die glauben, dass der Ort Rungholt von einer fürchterlichen Flut überspült und zerstört worden ist. Da die Einwohner trotz Anstrengung und Schweiß wegen anhaltender Überflutungen nicht imstande waren,  die Deiche wiederherzustellen und ihre Länderein und Unterkünfte gegen das Meer zu schützen, wurde der Ort Rungholt und die angrenzenden Kirchspiele endlich für verlassen angesehen und dem Meer preisgegeben.

[53] Text nach Annales Strandenses 1095-1619. In: Fünf Quellen zur Geschichte der Insel Strand. Mitgeteilt von Albert Panten. In: Neues Friesisches Archiv 1, Bredstedt 2003, S. 77-84; S. 78. Es handelt sich um eine kleine Chronik aus der Zeit um 1600, deren Titel den von Lauritz Adsen „Annales trium provinciarum“ aufgreift. In der Universitätsbibliothek Kiel werden zwei Handschriften aufbewahrt, MS SH 222 und 222A; letztere ist eine Abschrift von der Hand des Husumer Johannes Mejer; Albert Panten ediert nach 222A mit einigen Verbesserungen nach 222.

[54] Cornelius von der Loo (Universitätsbibliothek  Kopenhagen Ledreborg 209; hier nach Kod. Ms. SH. 221 (Universitätsbibliothek Kiel) f. 4v-6r. Es handelt sich um eine spätere Abschrift wohl aus dem 18. Jahrhundert, die aber vom Inhalt her keine Veränderungen vornimmt. Von der Loo gibt als Datum für die Flut den 16. Januar 1300 an. Die Handschrift berichtet bis um 1620 (Auskunft von Albert Panten, Niebüll).

[55] Jonas Hoyers historische Beschreibung der Insel Nordstrand (wie Anm. 28), S. 763-765.

[56] Peter Sax: Stam Bäume (wie Anm. 50), S. XXIX.

[57] Herbert Henningsen: Rungholt. Der Weg in die Katastrophe. Bd. I, S. 21.

[58] Matthiae Boetii: De Cataclysmo Nordstrandico. Commentariorum Libri Tres. Text, Übersetzung und Anmerkungen von Otto Hartz. Neumünster 1940. (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins. Bd. 25.) Lateinischer Text und deutsche Übersetzung nach Boetius, deutsche Übersetzung von Otto Hartz.

[59] At omnium tamen certissimum est in sinu illo inter Trindermarsiam Sudfalliam ac Pelwormium fuisse cum pagos postremo loco nominatos tum oppidum Rungeholtum, cuius nomen mirum est, quam apud maiores fuerit celebratum et etiamnunc ad vulgus decantetur. Et mirandae omnino de illius eversione ac interitu narratiunculae circumferuntur: ob habitatorum nimirum enormem impietatem et exsecrandum erga sacerdotem sacramque eucharistiam perpetratum facinus oppidum id in momento terrae absorptum hiatu, et credunt superstitiosi emersurum id ipsum et rediturum in locum pristinum ante finem mundi. Adduntque insuper spectra ac praestigias: salvis omnibus aedificiis hoc oppidum intra terrae viscera consistere et emergere, si non semper attamen interdum, templi turrim ex aqua vel litore eamque aere sudo clare conspici, quin et audiri a praetermeantibus nolarum sonitum, aliaqua his consimilia.

[60] Das Folgende nach Friedrich A. Neumann: Die Vineta-Sage. Zur Genese einer historischen Erzählüberlieferung. In: Rostocker Beiträge zur Sprachwissenschaft 12 (2002), S. 131-148. Der Beitrag dokumentiert einen Teil der Sagentradition bis zu ihrer schriftlichen Fixierung im 19. Jahrhundert, verzichtet aber darauf, die Quellen mit den Teilen der so konstituierten Sage zu vergleichen.

[61] J. D. H. Temme: Die Volkssagen von Pommern und Rügen. Berlin 1840, S. 23-27. Eine gekürzte Nacherzählung gibt Ludwig Bechstein in: Deutsches Sagenbuch. Leipzig: Georg Wigand, 1853. Hg. von Karl Martin Schiller. Meersburg/Leipzig: Hendel, 1930, S. 169.

[62] Aus den Quellenangaben, die Temme für seine Sagenredaktion verwendet hat, kann man die genaue Herkunft der beiden auf Rungholt übertragenen Motive nicht erschließen. Ein entsprechender Nachweis ist in Siegfried A. Neumanns Untersuchung nicht enthalten. Mögliche Quellen für die Chronisten des 17. Jahrhunderts könnten die „Pomeriana“ des Thomas Kantzow (1505-1542), Sekretär des pommerschen Herzogs in Wolgast, gewesen sein. Thomas Kantzow: Pomeriana oder Vrsprunck, Altheit vnd Geschichte der Völcker vnd Lande Pomern, Caßuben, Wenden, Stettin, Rhügen. Hg. von Hans Gottfried Ludwig Kosegarten. Greifswald 1816.

[63] Anno 1216. Ist auermahls So eine große Fluth gewesen, dat alle spade Lande ingebracken, vnd woll 10. Tausent Man in de dre Lande Eyderstette, Dithmarschen vnd Nordtstrandt Verdrenket. Anno 1300. Sint im Strande vnder gegangen 28. Carspeln vnd ist dohmahls ock Rungholt versuncken. Dar sint die Lude so Gottloß gewesen: dat se groth Auerthat vnd Mothwillen gedreuen dat vp einmall etliche geste bey einander gesethen, vnd mit Tuchten zureden Ein Söge druncken gemacket, vnd tho Bedde gelecht, vnd den Prediger Baden gesandt, dat dar eine krancke Minsche wehre, de begehrde dat Sacramente, Do de prediger darhen quam vnd solches sach, wolde he dem Schwine dat Sacramente nicht geuen, sunder ging daruon, Alse he auerst tho Huß gingk, Sethen dar etliche in einem Kroge, de sprecken, Sue dar kompt vnse prediger, wo he nicht tho vns in kahmen will, so wille wie ehme in de Schlöthe stothen, Gingen darup henuth, Beden vnd Nodigen ehm henin thokahmen, frageden ehn Freundtlich, wor he gewesen wehre, vnd do Idt de Prediger ehnen verthellede, frageden se ehme offte he dat Sacramente bey sich hadde, welches alse he idt beiagede, Beden se ehme doch freundtlich, he muchte Idt ehnen sehen Lathen, der prester dede den Schrin vp, vnd tögede ehn de Ablaten: darup frageden se ehn, offte Gott darin wehre, vnd sprecken, Iß Gott darinn, so muth he mit Vns drincken, vnd gothen den Nasch offte Schrin darin de Ablathen wehren voll Beer, Do badt de prester vmme gades willen, se scholden ehme den Nasch wedder werden Lathen, Auerst se frageden offt men dohn scholde, wente men Gott gelauet, de Prediger gedachte bey sich suluest woll, dat se nicht veell gudes gelauet hedden, darumb schwech he stille vnd gingk daruon. Darna auerst alse he tho Huß kompt, geith he in de Kercke vnd schluth de dohr achter ehm tho, vnd bedede tho Gott dem Allmechtigen, he wolde doch in diße Nodt sehen, wat geschach deßuluigen folgende Nacht Ist eine Stemme tho dem Prediger gekahmen, vnd gesecht, Papæ stehe vp vnd gahe vth dißem Lande, wente Gott will dith Landt verderuen Lathen, deßuluigen dages darnah ist de prediger daruon gegangen, […].
Text nach Annales Strandenses 1095-1619. In: Fünf Quellen zur Geschichte der Insel Strand. Mitgeteilt von Albert Panten. In: Neues Friesisches Archiv 1, Bredstedt 2003, S. 77-84.

[64] Henricus Heimreichs Chronik von Nordfriesland. Handschrift in der Königlichen Bibliothek, Kopenhagen (GKS 2912, Fol. 74-76). Der Text wurde wohl 1654 niedergeschrieben. Hier nach den Auszügen, gedruckt bei Hartz 1933, S. 81f. Die Verfasserfrage wurde von Albert Panten (Der Verfasser der „Anonymen Chronik“ von Nordstrand. In: Nordfriesisches Jahrbuch 2001, Bd. 37, S. 159f.) gelöst; Magister Henricus Heimreich schrieb diesen Bericht nach 1652 und beendete ihn 1655.

[65] C.P. Hansen an Karl Müllenhoff, Sylt, d. 22.Jan. 1844 (fälschlich für 1845). Unveröffentlichter Brief, Archiv der Humboldt-Universität Berlin, Müllenhoff-Nachlass. Darin: „Von dem Quabeltranck und der altfriesischen Fremdenprobe.“ Hansen zitiert aus Matthias von Wicht (Hg.): Das Ostfriesische Land-Recht, nebst dem Deich- und Syhlrechte: mit verschiedenen der ältesten Handschrifften zusammen gehalten und von vielen Schreibfehlern gesäubert. Durch eine nebengefügte wörtliche Uebersetzung, am Rande gesetzte Summarien, und Historisch-Critische Anmerckungen und Erklärungen der veralteten Wörter und Redensarten erläutert. Mit einem Vorberichte von dem Ursprunge und der Verfassung dieser Rechte, und einem dreyfachen Register versehen. - Zum ersten Mahle durch den Druck ausgefertiget. Aurich 1746.

[66] Historiola ex manuscripto Nordstrandico Frisicae lin(guae).
Rungholt fuit olim op<p>idulum Strandiae ad Pillworm, ubi nunc est Sudfall. In eo vico aliquot temulenti coloni pastorem accersi [sic] voluerunt in tabernam publicam, ut aegroto ministraret ultimam opem operamque. Caupo admonuit illos, se habere grandem suem, illam posse cerevisiae dispendio implere usque ad humanam ebrietatem, et grunniendo expressuram aegrotantis vocem, si in lectulo fuerit collocata. Arrisere nebulones, et si pastoris pietati et Deo ita illudere possent, magni alicujus facinoris titulum apud suos cives se tum quaesivisse impie somniabant. Pastor nihil sequius eventurum ratus, etsi haud ignarus paroecorum pervicaciae, barbarici supremaeque impietatis, cum sacro calice cucurrit summo vespere ... ciperet... ministerium, deducuntque ... ad lectulum, in quo sepulta sus cerevisia grunniebat, [dicentes], ibi aegrotanti expediendas esse sui officii partes, indidem [recte: itentid] inculcantes. Inhorruit homo visa bestia, increpitisque conviventibus acerbissime discedere volentem arripuere diabolici in hypocaustum, et nolentem volentem secum potare jusserunt; recusanti et omnes divos imprecanti alapas impegere, calicem sacrum sacerdoti ereptum in terram misere, recepto ex calice impia egere bacchanalia; tandem pastorem media nocte pugnis contusum dimisere, qui paroecoram impietate offensus et injuriae sibi illatae haud immemor humana desperans auxilia divinum extempore sollicitavit. Nec suis precibus in recluso templo defuit Dei propera vindicta; quippe cum tribus filiabus [sic] oranti intempesta nocte vox accidit: Secedite statim in colles cum vestris, mox enim Rungholt cadet. Itaque secessere illi cum suis, ubi nunc Sudfall est. Ea igitur intempesta nocte Rungholtum diluvio periit, cum circumjacentibus paroeciis. Non, ut vulgus apud nos ait, dehiscente terra absorptum fuit, et quod nonnunquam turres videantur, quin et campanae a praeternavigantibus audiantur; sed cataclysmo subrutum fuisse Rungholtum testantur fossaram antiquarum, etsi limo plurimum obductarum, indicia mari decrescente, quae ipse, quia haec historia apud nos celebratissima est, his oculis usurpare volui anno 1635.
Hujus historiae meminit paucis Matthias Boethius de cataclysmis Nortstrandicis.

Matz Paysen: historiolis (47 Folioseiten) in Paysens Exemplar des Saxo Grammatikus. Die Rungholtsage ist mit einigen Lücken ediert in: Jahrbuch für die Landeskunde der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg, Kiel 1861, S. 148f. Andreas Busch druckt den lateinischen Text (Die Rungholtsage und die Lagebestimmung Rungholts nach Matz Paysen. In: Jahrbuch des Heimatbundes Nordfriesland 1938, H. 25, S. 25-31., S 26f.) mit einer deutschen Übersetzung, die für diese Edition übernommen wurde. Paysen hat den Text von Boethius gekannt, seine Handschrift wurde aber nicht von den Brüdern Heimreich verwendet. (Busch, S. 27). Seine Autobiographie (1659) ist ebenfalls bei Busch, S. 31f. abgedruckt.

[67] Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staats, Bd. 2, S. 1041.

[68] Vergl. „Zur Definition der Sage“ bei Leander Petzoldt: Einführung in die Sagenforschung, S. 43ff.

[69] Heinrich Detering: Andersen liest Storm. In: H. D.: Kinheitsspuren. Theodor Storm und das Ende der Romantik. Heide 2011, S. 228.

[70] Hans Christian Andersen: Die beiden Baroninnen. Roman in drei Teilen. Aus dem Dänischen von Erik Gloßmann. Cadolzburg 2005, S. 124f.

[71] „Eine Halligfahrt“. In: Theodor Storm, Sämtliche Werke in 4 Bänden, hg. von K. E. Laage und D. Lohmeier. Bd. 2, Frankfurt a.M. 1987, S. 43f.

[72] Vergleiche Regina Fasold: „Wenn ich nur dort hinüber könnte,/ Wer weiß! – vielleicht noch fänd’ ich’s dort“. Orte der Heimkehr bei Theodor Storm. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 54 (2005), S. 9-25.

[73] Vergl. Jean Lefebvre: Schuld und Scheitern in Theodor Storms Novelle „Eine Halligfahrt“. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 53 (2004), S. 63-80.

[74] Detlev von Linliencron: Adjutantenritte. Leipzig 1883, S. 198-201.

[75] Bei den folgenden Angaben handelt es sich um eine Auswahl; eine systematische Ermittlung des Rungholtmotivs in der Literatur seit Ende des 19. Jahrhunderts steht noch aus.
Eugen Traeger: Rungholt. (Eine friesische Sage). In: Ulrich Anton Christiansen: Die Geschichte Husums im Rahmen der Geschichte Schleswig-Holsteins mit vorangehender Beschreibung Nordfrieslands und der Sturmfluten. Husum 1903, S. 20-25. – N. A. Johannsen: Rungholt. In: Jahrbuch des Nordfriesischen Vereins für Heimatkunde und Heimatliebe, H. 9 (1922), S. 27; in friesischer Sprache (Mooringer Mundart). – Albert Mähl: Rungholt (1365). In: Utsåt. Gedichten von Albert Mähl. Kiel 1931. S. 21f. – August Geerkens: Auf den Trümmern von Rungholt. In: Jahrbuch des Heimatbundes Nordfriesland 23 (1936), S. 10. – Rolf Hartmann: Kimbrische Küste: hinter Rungholt. In: R.H.: Gedichte: grün-graue. Niebüll 2005, S. 19.

[76] Zum Beispiel enthält das Buch von Rudolf Muuss: Rungholt. Ruinen unter der Hallig. Lübeck 3. Aufl. o.J. auf den Seiten 4 bis10 die Rungholtsage in einer freien Nachrzählung des Verfassers. – Rungholt. Fragmente. Ein Versuch von Klaus Bölling. Ein Essay über Rungholt und die Suche nach der versunkenen Stadt in uns selbst. www.boelling.de/rungholt/start.htm

[77] Karl Holm: Rungholt. Roman. Hamburg 1915. – Johannes Dose: Vor der Sündflut. Erzählung von Rungholts Ende. Schwerin 1906. – Wilhelm Poeck: Rungholtmenschen. Hamburg o.J. (um 1930).

[78] Kari Köster-Lösche: Die letzten Tage von Rungholt. München 1997.