Storms Dichtung der letzten Jahre im Spiegel seiner Krankheit

 

Im Jahre 1930 veröffentlichte Thomas Mann einen Essay über Theodor Storm, den er als Einleitung zu einer Werkausgabe des Husumer Dichters verfasst hatte. Die Schlusspassage lautet[1]:

Storm wurde fast einundsiebzig. Seine Todeskrankheit war das Marschenübel, das in eine seiner stärksten Erzählungen, „Ein Bekenntnis“, verhängnisvoll hineinspielt, der Krebs, und zwar der Magenkrebs. Er gab den Großartigen und verlangte „Klarheit“ von seinem Arzt, unter Männern. Als aber der ihm reinen Wein eingeschenkt hatte, fiel er zusammen und überließ sich tiefster Schwermut, so daß alle sahen, er würde den „Schimmelreiter“, das Höchste und Kühnste, woran er sich je gewagt, nicht vollenden. Sie sagten: „Kinder, das geht nicht“, und beschlossen, den alten Dichter, der künstlerisch in einer taciteisch-germanischen sera juventus stand, aber seine Männlichkeit überschätzt hatte, wohltätig zu belügen. Sein Bruder Emil, der Arzt war, tat sich mit zwei Kollegen zusammen, und es gab ein Humbug-Konsilium, worauf die Wissenschaft erklärte, das sei alles Unsinn und keine Rede von Krebs, die Magenbeschwerden seien ganz harmloser Art. Storm glaubte es sofort, schnellte empor und hatte einen vorzüglichen Sommer, in dessen Verlauf er mit den guten Husumern seinen siebzigsten Geburtstag sinnig-fröhlich beging und außerdem den „Schimmelreiter“ fortführte und siegreich beendete, diese mächtige Erzählung, mit der er die Novelle, wie er sie verstand, als epische Schwester des Dramas, auf einen seither nicht wieder erreichten Gipfel führte.

Ich wollte das zum Schlusse erzählen. Das Meisterwerk, mit dem er sein Künstlerleben krönte, ist ein Produkt barmherziger Illusionierung. Die Fähigkeit, sich illusionieren zu lassen, kam ihm aus dem Vollendungs- und Lebenswillen des außerordentlichen Kunstwerks.

Auch wenn der greise Dichter sich über seine eigene Krankheit allzu gerne Illusionen machte, so war er zur gleichen Zeit als Erzähler sehr viel nüchterner und ließ sich nicht auf Spekulationen oder gar auf Humbug solcher Art ein, wie sie ihm seine Ärzte aus guten Gründen verordnet hatten.

Zu Beginn des letzten Drittels von Storms Novelle „Der Schimmelreiter“ berichtet der Erzähler vom Deichgrafen Hauke Haien, der gerade seinen spektakulären neuen Deich gebaut hat und damit einen Koog von ca. 800 Demat[2] fruchtbaren Landes dem Meer abringen konnte[3]:

Nach Neujahr war wieder einmal die Sorge in das Haus getreten; ein Marschfieber hatte den Deichgrafen ergriffen; auch mit ihm ging es nah am Rand der Grube her, und als er unter Frau Elkes Pfleg' und Sorge wieder erstanden war, schien er kaum derselbe Mann. Die Mattigkeit des Körpers lag auch auf seinem Geiste, und Elke sah mit Besorgnis, wie er allzeit leicht zufrieden war. Dennoch, gegen Ende des März, drängte es ihn, seinen Schimmel zu besteigen und zum ersten Male wieder auf seinem Deich entlang zu reiten; es war an einem Nachmittage, und die Sonne, die zuvor geschienen hatte, lag längst schon wieder hinter trübem Duft.

Bei der Krankheit, die Storm hier seinem Helden zuschreibt, handelt es sich um die so genannte Marschenkrankheit, auch Drüddendagsfeber, Ernteseuche, Wechselfieber, Dreitagefieber oder Stoppelfieber, eine Infektionskrankheit, genannt Malaria, die durch einen einzelligen Blutparasiten verursacht wird, der vor der Entwässerung in den Marschen Norddeutschlands endemisch vorkam. Übertragen wurde sie von einer Mücke der Art Anopheles atroparvus.

Die Berichte über Epidemien waren bis zum Ende des Mittelalters so ungenau, dass man Malaria darin nur schwer von anderen Erkrankungen mit fiebrigem Verlauf unterscheiden kann. Eine Malariaepidemie, die große Teile Europas heimsuchte, ist für die Jahre 1557/58 gesichert. Bis ins 18. Jahrhundert lassen sich zahlreiche derartige Epidemien nachweisen. Betroffen waren auch große Teile Deutschlands, vor allem die Marschen und Moore an der Küste sowie die Gebiete entlang der großen Flüsse.

Da Storm für seine letzte Novelle sehr umfangreiche Quellenstudien betrieben hat – ich habe in den letzten drei Jahren mehr als 40 Chroniken, Landesbeschreibungen und andere gedruckte Veröffentlichungen identifizieren können, die der Dichter während der Vorarbeiten zu seiner Deichnovelle ausgewertet hat – liegt die Vermutung nahe, dass er auch für die realistische Beschreibung der Krankheitssymptome des Marschenfiebers recherchiert hat. Vor einem Jahr fiel mir dann in der Tat auch die Quelle für dieses Motiv in die Hände, als ich nämlich in einem Teilnachlass von Theodor Storms zweitältestem Sohn die Dissertation von Storms jüngerem Bruder Aemil fand, der in Kiel Medizin studiert und sich dann als praktischer Arzt in Husum niedergelassen hatte.

Der Titel lautet: „De febre sic dicta marchica“. Die Arbeit entstand im Jahre 1857, umfasst 20 Druckseiten und trägt auf dem Titel das bescheidene Prädikat „rite“.[4] In ihr fasst Aemil Storm die historischen Berichte über das Marschenfieber bis 1826 zusammen, als es in Ostfriesland, bei Hamburg und in Nordfriesland das letzte Mal epidemisch auftrat. Darüber hinaus beschreibt Storms Bruder den Krankheitsverlauf und die damaligen Therapiemöglichkeiten. Mehrere Seiten behandeln die Struktur der küstennahen Feuchtgebiete in Marsch und niederer Geest[5]; der Verfasser spricht in diesem Zusammenhang von einer Infektionskrankheit, die er mit Miasmen, das sind Ausdünstungen aus feuchten Böden, in Verbindung bringt. Der jüngere Storm-Bruder kann keine unmittelbare Ursache für diese Infektionen nennen, denn erst 25 Jahre später entdeckte der französische Arzt Alphonse Laveran den Plasmodium-Parasiten im Blut von Malaria-Patienten und damit die ursächlichen Zusammenhänge zwischen Mückenstich und Infektion.

Heute wissen wir, dass es sich um die Malaria tertiana handelte, die durch das Plasmodium vivax und das Plasmodium ovale ausgelöst wird. Diese Parasiten können in der Leber eines infizierten Menschen überdauern, und die Krankheit bricht erst nach einer primären langen Latenz von mehreren Monaten aus.

So erklären sich auch Theodor Storms auf den ersten Blick eigentümlichen Zeitangaben: Die Krankheitssymptome zeigen sich bei Hauke Haien „nach Neujahr“ und hindern den Deichgrafen bis „Ende März“ daran, seinen Schimmel zu besteigen.

Der Erreger konnte also zur „Ährenzeit“ – wie es in Aemil Storms Dissertation heißt – nach 8-16tägiger Inkubationszeit eine mehrtägige Symptomatik auslösen und ruhte dann gleichsam für Monate, um in der Winterzeit wieder aktiv zu werden. Erkrankungsfälle mit Wechselfieber traten in den Marschen vor allem im Frühjahr und im Spätsommer auf; im Frühjahr waren viele Menschen durch die Entbehrungen der Winterzeit geschwächt, was die latente Malaria ausbrechen ließ. Im Spätsommer häuften sich die Fälle, in denen die Krankheit nach einer Neuinfektion mit kurzer Inkubation ausbrach.

Theodor Storm beschreibt in seiner Novelle keine der typischen Symptome wie Schüttelfrost und Kopfschmerzen, aber er weist auf etwas anderes hin, was für den Krankheitsverlauf typisch ist, auf die „Mattigkeit“ des Körpers und des Geistes, die nach Angaben der WHO[6] auch heute noch eine wichtige Ursache für die ökonomischen Probleme des afrikanischen Kontinents sind.

In Storms Novelle sind es diese Krankheitssymptome, die aus dem aktiven und energischen Hauke Haien einen zögerlichen und nachlässigen Menschen machen, der die Zeichen am alten Deich wie Mäusefraß und Ausspülungen zwar sieht, der sich aber von seinem Widersacher Ole Peters beschwichtigen lässt und nichts unternimmt, was erforderlich gewesen wäre, um den alten Deich sturmflutsicher zu machen. Deshalb bekennt er kurz vor seinem Tode[7]: „‚Herr Gott, ja ich bekenn es’, rief er plötzlich laut in den Sturm hinaus, ‚ich habe meines Amtes schlecht gewartet!’“ und stürzt sich mit seinem Schimmel in das hereinbrechende Meer.

Storm begründet also den Wandel im Verhalten des Deichgrafen, indem er ihm eine Krankheit zuschreibt, deren Verlauf der Grund für Haukes Schwächung bildet. Damit ist das selbstverschuldete Scheitern Hauke Haiens rational erklärt. Storm sendet so ein deutliches Signal an den Leser, die andere Erklärung für das Scheitern des Deichgrafen, die von der abergläubischen Marschbevölkerung kolportiert wird, nicht für bare Münze zu nehmen. Diese erzählen nämlich eine andere Version vom Untergang und behaupten, ihr Deichgraf habe sich mit dem Bösen verbündet und sei während des Sturms vom Teufel geholt worden. Die medizinischen Details, die hinter der Oberfläche dieser Textstelle die logische Voraussetzung des Erzählten bilden, gehören zur rationalen Argumentation des Erzählers, hier des Schulmeisters, der dem Leser seine Sicht der Dinge vermitteln möchte. Und die ist geprägt vom Selbstverständnis der Aufklärung und von der Zweckrationalität des 19. Jahrhunderts.

 

Die Medizin spielt auch in Storms früherer Novellistik eine wichtige Rolle.[8] Weit verbreitet ist bis heute die Vorstellung, Storm sei ein Idylliker, der menschliche Beziehungen in einem spätbiedermeierlichen Licht poetisch verklärt. Aber schon die Themen und Motive, die Storm für seine Novellen wählte, weisen auf einen Realismus hin, der sich nicht scheut, auch Tabuthemen seiner Zeit aufzugreifen und literarisch zu gestalten. So finden wir in Storms Erzählungen auch Nacktheit und Scham, Geldgier und Hass, Dummheit und Gleichgültigkeit thematisiert; die späten Erzählungen behandeln soziale Diskriminierung von Verbrechern genau so wie das Problem der Euthanasie.

Im Mittelpunkt der Novelle „Ein Bekenntnis“ aus dem Jahre 1887 steht ein Arzt. Die vorläufigen Überschriften in der Entwurfshandschrift weisen auf den von Storm gewählten zentralen Motivkomplex hin: „Erzählung des Arztes“ und „Novelle medici“.

Hauptperson und Erzähler der Geschichte ist ein Dr. Jebe, ein Frauenarzt, von dem es heißt, er sei „nicht zaghaft“ und sich bewusst, das Seinige gelernt zu haben. Er vertraut seinen Fähigkeiten, er ist ein Arzt, „der am Krankenbett nicht erst zu suchen und bei seiner Heimkehr erst in seinen Kompendien nachzulesen brauche.“[9]

Dieser selbstbewusste Doktor untersucht seine zarte und sehr schmerzempfindliche Frau; sein späterer Bericht lautet[10]:

Plötzlich - es war das erste Mal in meinem Berufe - begann meine Hand zu zittern, und Elsis große erschrockene Augen blitzten in die meinen; ‚Carcinoma’, sprach es in mir; es durchfuhr mich; wie kam das Entsetzliche zu meinem noch so jungen Weibe? Das Leiden galt derzeit in der Wissenschaft für absolut unheilbar; nach leis heranschleichenden, alles Menschliche überbietenden Qualen war stets der Tod das Ende. Ich kannte diese Krankheit sehr genau; und mit Schaudern gedachte ich des letzten grauenhaften Stadiums derselben.

Später, als die Krankheit ein Stadium erreicht hat, in dem die Frau ihre Schmerzen nicht mehr ertragen will, verabreicht Dr. Jebe seiner Frau auf deren Wunsch hin eine tödliche Dosis Morphium.

Danach heißt es in der Novelle[11]:

Als mein Assistent sich entfernt hatte, fühlte ich eine Unruhe in mir, die mich dies und jenes anzufassen trieb; so kam ich auch über die Schublade, in der meine medizinischen Zeitschriften lagen. Es war ein ganzer Haufen, und ich begann die einzelnen Hefte nach ihrer Ordnung zusammenzusuchen; vielleicht dachte ich gar daran, sie zum Binden fortzuschicken; zugleich blätterte ich und las die Überschriften und den Beginn von einzelnen Artikeln. Da fielen meine Augen auf eine Mitteilung, die mit dem Namen einer unserer bedeutendsten Autoritäten als Verfasser bezeichnet war, eines Mannes, der sich nur selten gedruckt vernehmen ließ. Ich warf mich mit dem Heft aufs Sofa und begann zu lesen und las immer weiter, bis meine Hände flogen und ein Todesschreck mich einem Beilfall gleich getroffen hatte. Der Verfasser schrieb über die Abdominalkrankheiten der Frauen, und bald las ich auf diesen Blättern die Krankheit meines Weibes, Schritt für Schritt, bis zu dem Gipfel, wo ich den zitternden Lebensfaden selbst durchschnitten hatte. Dann kam ein Satz, und wie mit glühenden Lettern hat er sich mir eingebrannt: ‚Man hat bisher – so las ich zwei- und dreimal wieder – ‚dies Leiden für absolut tödlich gehalten; ich aber bin im Stande, in Nachstehendem ein Verfahren mitzuteilen, wodurch es mir möglich wurde, von fünf Frauen drei dem Leben und ihrer Familie wiederzugeben.’

            Das Übrige las ich nicht; meine Augen flogen nur darüber hin. Es war auch so genug; der Verfasser jenes Satzes war mein akademischer Lehrer gewesen, zu dem ich damals, und auch jetzt noch, ein fast abergläubisches Vertrauen hatte.

            Ich blätterte bis zu dem Umschlage des Heftes zurück und las noch einmal den Monatsnamen, der darauf gedruckt stand; es war unzweifelhaft dasselbe, welches ich vierzehn Tage vor Elsis Tod dem Postboten abgenommen und dann ahnungslos in die Schublade geworfen hatte. –

Lange lag ich, ohne die auf mich eindringenden Gedanken fassen zu können. Er hat es gesagt! – das ging zuerst in meinem Kopf herum; er ist kein Schwindler, auch kein Renommist. – – ‚Mörder!’ sprach ich zu mir selbst, ‚o allweiser Mörder!’

Das Motiv der aktiven Sterbehilfe hat zur gleichen Zeit auch Storms Freund Paul Heyse aufgegriffen, aber in einer leichteren Art dargestellt.[12] Während der letzten Phase des Schreibprozesses hat Heyse Storm darauf hingewiesen, dass er die zunächst unbestimmte Krankheit konkret benennen müsse[13]: „In solchen Dingen sollten wir doch einen ganz sicheren wissenschaftlichen Grund und Boden zu gewinnen suchen.“ Damit macht Heyse seine Freund auf eine der wesentlichen Forderungen aufmerksam, die an eine realistische Schreibweise gestellt werden muss, die Wirklichkeitsnachbildung.

Storm ist diesem Hinweis gefolgt und hat sich bei seinem Neffen Dr. Ludwig Glaevecke (1855-1905) Rat geholt, der damals als Assistenzarzt an der Frauenklinik in Kiel tätig war. Dieser bezog seine Informationen aus einer Publikation des Straßburger Gynäkologen Prof. Wilhelm Alexander Freund, der Anfang 1878 einen Aufsatz mit dem Titel „Eine neue Methode der Exstirpation des ganzen Uterus“ veröffentlicht hatte[14]. Aus dieser Publikation hat Storm wörtliche Ausführungen in seine Novelle übernommen.

Allerdings hat Heyse in seinem Brief vom 14. Juli 1887 einen Einwand formuliert: „All diese technischen Dinge, die Untersuchung eines Frauenleidens, die Hinweisung auf einen operativen Eingriff haben etwas so Schauderhaftes, daß sie aus einem Dichterwerk fernbleiben oder, wenn sie unumgänglich sind, aufs Zarteste berührt werden sollten.“

Storm ist auch dieser Mahnung gefolgt und hat die medizinische Untersuchung nur dezent angedeutet. Damit erfüllt er die Forderung des poetischen Realismus, dass die Wirklichkeitsdarstellung die Realität verklären, eine subjektive Erzählperspektive wählen und auf den Einbezug extremer Wirklichkeit (z. B. des abstoßend Hässlichen) verzichtet soll.

 

Theodor Storm hat eine Krankheit in seinem Werk sehr häufig behandelt, das Kindbettfieber. Diese weit verbreitete Krankheit wird in vielen Briefen an Freunde und Bekannte erwähnt; bei jeder Niederkunft musste der Ehemann fürchten, seine Frau zu verlieren. Storm behandelt diese Krankheit in folgenden Novellen: „Carsten Curator“ (1877, „Viola tricolor“ (1873), „Der Herr Etatsrat“ (1881), „Bötjer Basch“ (1885/86) und „Der Schimmelreiter“ (1888).

Der Grund für diese Häufung waren persönliche Erfahrungen des Dichters; 1847 war seine sehr geliebte Schwester Helene im Kindbett gestorben und 1865 erlag Constanze Storm der Infektionskrankheit nach der Geburt ihres 7. Kindes. Storm hat die Erschütterung, die der Tod seiner Frau für ihn bedeutete, in einem ergreifenden Zyklus von Gedichten verarbeitet.[15] Er hat sich durch sein literarisches Schaffen, mit dem er seine Trauer verarbeitete, gleichsam selber therapiert.

Wenn man sich unter diesem Gesichtspunkt die Schilderung des Krankheitsverlaufs im „Schimmelreiter“ anschaut[16], so wird deutlich, wie diese traumatische Erfahrung Storms auch noch nach 20 Jahren nachwirkte.

Als der alte Doktor davongefahren war, stand er am Fenster, in den winterlichen Tag hinausstarrend, und während die Kranke aus ihren Phantasien aufschrie, schränkte er die Hände zusammen; er wußte selber nicht, war es aus Andacht oder war es nur, um in der ungeheueren Angst sich selbst nicht zu verlieren.

            ‚Wasser! Das Wasser!’ wimmerte die Kranke. ‚Halt mich!’ schrie sie; ‚halt mich, Hauke!’ Dann sank die Stimme; es klang, als ob sie weine: ‚In See, ins Haf hinaus ? O lieber Gott, ich seh ihn nimmer wieder!’

            Da wandte er sich und schob die Wärterin von ihrem Bette; er fiel auf seine Knie, umfaßte sein Weib und riß sie an sich: ‚Elke! Elke, so kenn mich doch, ich bin ja bei dir!’

            Aber sie öffnete nur die fieberglühenden Augen weit und sah wie rettungslos verloren um sich.

Da verzagt Hauke an seinem Gottesglauben und bezweifelt vor den Ohren seiner Mägde die göttliche Allmacht. Aber einige Abschnitte weiter heißt es:

Der alte Arzt kam wieder, kam jeden Tag, mitunter zweimal, blieb dann eine ganze Nacht, schrieb wieder ein Rezept, und der Knecht Iven Johns ritt damit im Flug zur Apotheke. Dann aber wurde sein Gesicht freundlicher, er nickte dem Deichgrafen vertraulich zu: ‚Es geht! Es geht! Mit Gottes Hülfe!’ Und eines Tags - hatte nun seine Kunst die Krankheit besiegt, oder hatte auf Haukes Gebet der liebe Gott doch noch einen Ausweg finden können - als der Doktor mit der Kranken allein war, sprach er zu ihr, und seine alten Augen lachten: ‚Frau, jetzt kann ich's getrost Euch sagen: heut hat der Doktor seinen Festtag; es stand schlimm um Euch; aber nun gehöret Ihr wieder zu uns, zu den Lebendigen!’

            Da brach es wie ein Strahlenmeer aus ihren dunklen Augen: ‚Hauke! Hauke, wo bist du?’ rief sie, und als er auf den hellen Ruf ins Zimmer und an ihr Bett stürzte, schlug sie die Arme um seinen Nacken: ‚Hauke, mein Mann, gerettet! Ich bleibe bei dir!’

            Da zog der alte Doktor sein seiden Schnupftuch aus der Tasche, fuhr sich damit über Stirn und Nacken und ging kopfnickend aus dem Zimmer.

Zumindest in der Fiktion kann Storm das retten, was er in der Wirklichkeit verloren hatte.

 

Auch für die Novelle „Ein Bekenntnis“ gibt es ein Erlebnis, das Storm dazu angeregt haben könnte, das Thema aufzugreifen, allerdings ein weniger dramatisches. Am 3. September 1880 schreibt er an seinen Sohn Ernst[17]:

Mama (das ist Dorothea Jensen, Storms zweite Frau) […] leidet an einem Mutterpolypen; wir waren deshalb 2 Tage in Husum. Aemil wollte uns erst damit nach Kiel schicken; er hat es dann doch selbst übernommen. Mama ängstigt sich wie ein Kind u. weint dann. So geht der alte Lebenskarren wieder einmal recht schwer. Hoffentlich kommt Onkel Aemil morgen über 8 Tage hieher. Die Operation ist, glaub ich ziemlich schmerzlos, da der Polyp, in dem ja keine Nerven sind, mit electrischem Draht abgebrannt wird. Schön ist’s freilich gewiß nicht.

Kurze Zeit später wird die Wucherung der Gebärmutterschleimhaut in einer Hausoperation erfolgreich entfernt; die postoperativen Nachwirkungen durch ein seelisches Trauma sind allerdings gravierend; Storm schreibt am 8. Oktober an Sohn  Ernst: „Mama ist lange schwach gewesen nach der Operation, die Nachkur war das Schlimmste dabei; nicht etwa durch Blutverlust, sondern durch Erschütterung der Nerven hat sie gelitten.“

Erstaunlich an dem Vorfall ist, dass neben der Hebamme Storm selber bei dem Eingriff, den sein Bruder Aemil vorgenommen hat, assistieren musste.

Das war nur ein Beispiel für die Genauigkeit, mit der Storm die eigenen Erfahrungen neben den Quellen benutzte, um seinen fiktiven Erzählungen jene Glaubwürdigkeit zu verleihen, die eine der zentralen Forderungen an die realistische Literatur des 19. Jahrhunderts war.

Aber der Realismus wiederholt nicht die Wirklichkeit im Kunstwerk, daher sind Genauigkeit und Detailtreue bei der Abbildung von Wirklichkeit allein kein Kriterium für realistisches Schreiben. Der Kunstcharakter von Literatur besteht in einer besonderen Anordnung von Fakten, die eine Verallgemeinerung des Einzelnen, Konkreten beabsichtigt und die Welt als geordnet darstellt und sie deutet.

Das heißt, der Künstler muss zunächst in der Wirklichkeit die eigentliche Form der Dinge erkannt und aus dem empirisch Fassbaren allgemeine Gesetze abgeleitet haben, die seine Weltanschauung ausmachen. Die Wirklichkeit ist – so wie sie ist – für die Kunst wertlos; erst durch die Darstellung eines Gesamtzusammenhangs, die auf empirischer Grundlage beruht, entsteht realistische Kunst.

Das künstlerische Verfahren des Realismus besteht darin, die Details der Wirklichkeit so darzustellen, dass deren allgemeine Bedeutung zutage tritt. Die Fähigkeit, das Allgemeine im Konkreten sichtbar werden zu lassen, ist das zentrale künstlerische Merkmal des Realismus. Deshalb fragt Storm auch während er an der Novelle schreibt: „Wie kommt Einer dahin, sein Geliebtestes zu töten?“ und „Was wird aus ihm, wenn er das getan hat?“. Und Storm gibt eine Antwort auf die zweite Frage, indem er einen entsprechenden Novellenschluss erfindet: Dr. Jebe gesteht sich ein, dass er ein Menschenleben vernichtet hat, nimmt diese Schuld an und sühnt sie, indem er nach Afrika geht, um dort, „wo mehr die Unwissenheit als Krankheit und Seuche den Tod der Menschen herbeiführt. Dort will ich in Demut mit meiner Wissenschaft dem Leben dienen; ob mir dann selber Heilung oder nur der letzte Herzschlag bevorsteht, will ich dort erwarten.“[18]

So erscheinen in Storms Novelle die medizinischen Verfehlungen und Leistungen als Abbilder der allgemeinen Verhältnisse, sie werden aber dank des Kunstcharakters der Werke nur als individuelle Eigenarten der literarischen Figuren sichtbar. Der kreative Leser kann das Wirkliche in seinem Bewusstsein überschreiten, indem er anhand ausgewählter Wirklichkeitsausschnitte in einem literarischen Text zur Wahrheit dieser Wirklichkeit vordringt. Er erfährt im Aufnehmen der konkreten Details eine größere oder „höhere“ Wahrheit; darin besteht eine der Funktionen von Literatur.

 

Anmerkungen


[1] Theodor Storm: Sämtliche Werke. Mit einer Einleitung von Thomas Mann. Berlin 1930, S. 26.

[2] Das Demat war ein besonders in den Marschen geltendes altes Flächenmaß und entspricht etwa einem halben Hektar. (Wikipedia)

[3] Theodor Storm: Sämtliche Werke in 4 Bänden. Hg. von Karl Erst Laage und Dieter Lohmeier. Frankfurt a.M. 1987f.; Band 3, im Folgenden abgekürzt als „LL 3“; hier S. 735.

[4] Exemplar im Storm-Archiv, Husum.

[5] Marsch bezeichnet das Schwemmland der nordwestdeutschen Küsten und Flüsse; Geest ist die höher gelegene eiszeitliche Moränenlandschaft.

[6] Vergl. Georg Rüschemeyer: An der Front gegen die Malaria (http://www.faz.net).

[7] LL 3, S. 751.

[8] Vergl. dazu Karl Ernst Laage: Ärzte und ärztliche Probleme bei Theodor Storm. In: Arzt und Krankenhaus. Organ des Verbandes der leitenden Krankenhausärzte Deutschlands e.V. (1994), S. 163-170.

[9] LL 3, S. 591.

[10] LL 3, S. 608.

[11] LL 3, S. 618f.

[12] Paul Heyse: Auf Tod und Leben. In: Himmlische und irdische Liebe. Berlin 1886. Über den Einfluss der Arbeit Heyses auf Storms Novelle vergl. den Kommentar in LL 3, S. 1028ff.

[13] Brief Heyses vom 25. Juni 1887. In: Theodor Storm – Paul Heyse. Briefwechsel. Hg. von Clifford Albrecht Bernd. 3 Bde. Berlin 1969/70/74.

[14] Leipzig 1878.

[15] LL 1, S. 86ff.

[16] LL 3, S. 715f.

[17] Theodor Storm – Ernst Storm. Briefwechsel. Hg. von David Jackson. Berlin 2007.

[18] LL 3, S. 631.

 

 Storms Dichtung der letzten Jahre im Spiegel seiner Krankheit. In: Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 61.2008, H. 12, S. 54-59.