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Ludwig Tieck: Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens

Eine Tragödie

 

 

Die erste eigenständige deutsche poetische Verarbeitung des Märchens ist Ludwig Tiecks (1773-1853) „Leben und Tod des kleinen Rotkäppchens. Eine Tragödie.“ Sie erschien 1800 und geht auf Perrault zurück.

 

Gemälde von Joseph Karl Stieler

 

Der Text erschien zu Lebzeiten in drei Ausgaben:

 

Ludwig Tieck: Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens. Eine Tragödie. In: Romantische Dichtungen von Ludwig Tieck. Zweiter Theil, Jena 1800, S. 465-506.

Ludwig Tieck: Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens. Eine Tragödie. In: Phantasus. Eine Sammlung von Mährchen, Erzählungen, Schauspielen und Novellen, herausgegeben von Ludwig Tieck. Erster Band. Berlin 1812, S. 478-511.

Ludwig Tieck: Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens. Eine Tragödie 1800. In: Ludwig Tieck’s Schriften. Zweiter Band. Berlin 1828, S. 327-362.

 

Die Tragödie „Leben und Tod des kleinen Rotkäppchen“ ist ein Märchendrama, das aus fünf Szenen besteht. Tieck selbst äußert sich in dem Vorbericht zur ersten Lieferung seiner Schriften zum Rotkäppchen auf folgende Weise: „Im Frühling 1800, am ersten schönen warmen Tage, schrieb ich in heitrer Laune in Jena den poetischen Scherz ,Rotkäppchenʻ.“

 

  

 

Perraults Märchensammlung oder eine deutsche Übersetzung diente Ludwig Tieck (1773–1853) als Vorlage für die recht eigenwillig und mit vielen zeitgenössischen Anspielungen gestaltete Tragödie in Versform Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens, die der Romantiker im Jahre 1800 herausbrachte. Tieck, der darüber hinaus weitere Perrault-Vorlagen wie das Katermärchen (KHM 33 [1812)] und den Blaubart-Stoff (KHM 62 [1812]) bearbeitete, milderte das unversöhnliche Ende des französischen Buchmärchens ein wenig ab. Im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit und möglicherweise beeinflußt von den irrigen, aber traditionellen Vorstellungen vom Wolf, der eine Gefahr für den Menschen darstelle, führt er erstmals die Figur eines – philosophierenden – Jägers ein, der mit seinem Leben ganz und gar nicht zufrieden ist und resignierend bemerkt: „Einem Wolf auf die Spur zu geraten,/ Was noch am Ende dient zu meinem Schaden“, um dann wieder großsprecherisch zu äußern: „Wenn ich den Monsieur Wolf nur packe,/ So ists gewiß um ihn geschehn.“ Aber den Prahlhans interessiert eigentlich nur sein Äußeres, wie seine im gleichen Atemzug hervorgebrachten Worte deutlich machen: „Kleidt michs nicht gut, das neue Tuch?“ Dieser überzeichnete Vertreter seiner Zunft hat seinen Auftritt in der zweiten von fünf Szenen und taucht dann unvermittelt in der Schlußszene wieder auf, diesmal am Haus der Großmutter, weil er Vogelgeschrei gehört hat. Er versteht natürlich die Tiersprache und erfährt von zwei Rotkehlchen: „Rotkäppchen ist tot ganz Gotts erbärmlich!/ Der wilde Wolf hat sie zerrissen,/ Und auch zum Teil schon aufgefressen.“ Darauf der Jäger unter Wiederholung der Gefühlsäußerung: „Daß Gott erbarm! ich schieße zum Fenster hinein.“ – [Er schießt hinein.] „Da liegt der Wolf und ist auch tot,/ So muß für alles Strafe sein,/ Er schwimmt in seinem Blute rot./ Es kann einer wohl ein Verbrechen begehn,/ Doch kann er nie der Strafe entgehn“.
Hans-Jörg Uther: Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm (German Edition) (S.121-129). De Gruyter. Kindle-Version.

 

In der ersten Szene wird in das Geschehen eingeführt. Man erfährt, dass das kleine Mädchen namens Rotkäppchen eine Großmutter hat, die es des Öfteren besucht. Außerdem wird bereits deutlich, dass es im Wald einen umherstreunenden Wolf gibt, der eine Gefahr darstellt. Dies wird in der zweiten Szene durch das Gespräch zwischen Rotkäppchen und dem Jäger verstärkt, da das Rotkäppchen sich hier zum ersten Mal die von dem Wolf ausgehende Gefahr bewusst macht: „wenn er nun käme“. Die dritte Szene bildet tatsächlich in gewisser Weise einen Höhe- oder Wendepunkt, da hier der Wolf, also die Figur, die zuvor zwar nur passiv in Erscheinung tritt, aber dennoch von ständiger Präsenz ist, nun zum Akteur wird und sein Innerstes nach außen kehrt. Er ist eine „scheiternde, mithin auch tragische Figur“. Der tölpelhafte Hund, der des Wolfes Unglück nicht ernst zu nehmen scheint, ist Auslöser für eine sowieso schon im Wolf schlummernde Aggressivität: „Hätt' ich ihn doch lieber in Stücke zerrissen! / Doch will ich sein liebes Rotkäppchen fangen“. Die Jagd nach dem Rotkäppchen ist ab diesem Moment eine Art Rachefeldzug gegen den Hund, die Handlung wendet sich nun dahin, dass sich die vorherigen Vermutungen über den Wolf bestätigen und dieser zu einer echten Bedrohung wird. Die steigende Spannung, das Verzögern der Entwicklung des Geschehens findet in der vierten Szene durch die sich hier häufenden Warnungen statt. Das Drama mündet in der fünften Szene in die Katastrophe mit dem Tod des Rotkäppchens, das sich in seiner Unschuld und Naivität doch schuldig macht, indem es zuvor jegliche Mahnung ignoriert und sich somit in einen tragischen Konflikt verwickelt.

Franziska Beermann: Ludwig Tiecks Leben und Tod des kleinen Rotkäppchen, Eine Tragödie im Verhältnis zur Märchentradition. Universität Osnabrück, Bachelor-Arbeit vorgelegt im Rahmen der Bachelor-Prüfung für den Studiengang Bachelor BEU im Teilstudiengang Germanistik, S. 25f.

 

 

Leben und Tod

des

kleinen Rothkäppchens.

Eine Tragödie.

–––

 

Personen:

Die Großmutter.

Rothkäppchen.

Hanna, ein Bauermädchen.

Der Jäger.

Zwei Rothkehlchen.

Der Wolf.

Der Hund.

Ein Bauer.

Peter.

Dessen Braut.

Die Nachtigall.

Der Kuckuck.

 

 

Erste Scene.

(Stube.)

–––

 

Die Großmutter sitzt und liest.

Ist heute gar ein schöner Tag,

An dem man gern Gott dienen mag,

Das Wetter ist hell, scheint die Sonne herein,

Da muß das Herz andächtig seyn.

Ich höre von ferne das Geläute,

Es ist ein lieblicher Sonntag heute,

Vor dem Fenster die Bäume sich rauschend neigen,

Als wollten sie sich gottsfürchtig bezeigen.

Ich wohn allhier vom Dorf abseitig,

Sonst ging ich gern zur Kirche zeitig,

Doch ich bin alt, dazu krank gewesen,

Da thu ich im lieben Gesangbuch lesen,

Der Herr muß damit zufrieden sich geben,

Eine arme Frau kann nicht mehr thun eben. —

(gähnt und macht das Buch zu.)

Ach Gott! so geht es in der Welt!

Ja, ja, es ist recht schlimm bestellt.

Meine Tochter Elsbeth backt heute Kuchen,

Da wird mich wohl klein Rothkäppchen besuchen.

Es geht die Thür oder es ist der Wind,

Ich glaube da kommt das kleine Kind.

Rothkäppchen tritt herein.

Rothkäppchen.

Guten Morgen, lieb Großmutter, wie geht es dir?

Großmutter.

Großen Dank, mein Kind, es geht so so — was

matt.

Rothkäppchen.

Ich kam so sachtchen durch die Thür;

Ich dachte: wenn sie nicht gut geschlafen hat,

So mag sie wohl jetzt ein bischen nicken,

Da mußt du sie nicht aus dem Schlummer wecken.

Großmutter.

Ich bin schon heut früh munter gewesen

Und habe in Gottes Wort gelesen.

Rothkäppchen.

Du bist recht fromm. Die Mutter hat heut

Einen schönen großen Kuchen gebacken,

Da schickt sie dir auch ein Stück.

Großmutter.

Du liebe Zeit!

Ei, Dank, mein Kind! Der schaut recht wacker.

Wo sind denn die lieben Eltern dein?

Rothkäppchen.

Sie werden jetzt in der Kirche seyn,

Ich ging vorbei, die Orgel klung

Recht lustig, der Kanter mächtig sung.

Mit der Kirch ist es heut besonders bewendt,

Es predigt drinn der Superdent,

Der Pastor ist noch krank, deswegen

Ists heute drinn recht dick voll Leut;

Sie meinen, der könnte recht den Text auslegen. —

Du hast ja schönen frischen Sand gestreut.

Großmutter.

Man muß doch auch wissen, daß Sonntag ist,

Sonst lebt man wie'n Heide und nicht wie ein

Christ.

Rothkäppchen.

Sie haben mich auch heute weiß angezogen,

Sieh nur die bunten Blumen, das neue Kleid!

Dem Käppchen bin ich besonders gewogen,

Das du mir schenktest zur Weihnachtszeit.

Sie sagen alle, es thäte Noth,

Daß ich das Käppchen ließe liegen

Und es nicht alle Tage trüge;

Aber es geht doch keine Farbe über Roth.

Großmutter.

Ei, liebes Kind, trag du sie dreist,

Ich hab sie dir geschenkt zum heiligen Christ,

Sie kleidt dich hübsch, und wie du weißt,

Du seitdem Rothkäppchen geheißen bist;

Ist die aufgetragen, schafft man wohl Rath zu

'ner neuen.

Rothkäppchen.

Wie wollt ich mich von Herzen freuen

Wenn sie mich erst könnten konfirmiren!

Dazu mußt du mir wieder 'ne rothe Kappe schenken.

Großmutter.

Daran ist jetzt noch nicht zu denken,

Du bist kaum sieben Jahr, da führen

Sie noch kein Kind an den Tisch des Herrn,

Da können sie noch nichts von Religion verstehn,

Du dürftest auch nicht in 'ner rothen Mütze gehn,

Müßtest schwarz und ehrbar dich tragen,

Einen Muff, 'nen hohen Kragen;

Das kann Gott der Herr nicht vertragen,

Daß man zu ihm wie zum Tanzboden springt,

Sein Wort mit rothen Mützen in der Kirche singt.

Rothkäppchen.

Bin doch schon so in die Kirche gegangen,

Und hat mir keiner was drum gethan.

Großmutter.

Als Kind ist dirs so hingegangen,

Die Unmünd'gen sieht er so genau nicht an.

Rothkäppchen.

Was hat aber Gott an so schönen rothen Mützen

Denn so gar Großes auszusetzen?

Großmutter.

Ei schweig, du böses Kind! Vor der Hand

Hast du davon noch keinen Verstand;

Wer da will in sein Himmelreich eingehen,

Muß sich wohl zu schwereren Dingen verstehen.

Ließe mich Gott nur so lange leben,

Daß ich dir zum Abendmahl könnt' ein Müffchen

schenken!

Doch ist daran nicht zu gedenken,

Ich muß wohl bald den Geist aufgeben.

Rothkäppchen.

Großmutter, nein, das thut nicht Noth.

Großmutter.

Hin geht die Zeit, her kommt der Tod. —

Ich befehle mich in deine Hände! —

Wer weiß, wie nahe mir mein Ende.

Rothkäppchen.

Großmutterchen, willst du mich lieben

Mußt du mich auch nicht so betrüben.

Du sollst noch recht hübsch bei mir bleiben,

Wir wollen uns noch schön die Zeit vertreiben;

Ein andermal bring ich mein Püppchen mit,

Da sollst du gewiß brav lustig werden.

Großmutter.

Ach, liebes Kind, auf dieser Erden

Ist man vom Grab oft nur zwei Schritt,

Und meint, man soll noch weit gelangen. —

Sieh, wie schön der Kuchen aufgegangen.

Was macht denn der Vater? Warum kömmt er

nicht mal her?

Rothkäppchen.

Er hats in den Beinen, das Gehn wird ihm schwer,

Das eine Knie ist ganz geschwollen.

Großmutter.

Da hätt' er was zu brauchen sollen.

Rothkäppchen.

Er hat auch mancherlei eingenommen,

Doch will es ihm nicht recht bekommen.

Der Kantor meint, vom Trinken käm es,

Das müßt er lassen bei Medicin;

Doch will er sich dazu nicht bequemen,

Er sagt, der Kantor vexire ihn,

Der tränke wohl dreimal mehr als er,

Und hätte doch keine Beine schwer.

Großmutter.

Die bösen Leut'! Der Brantewein

Muß immer ihre erste Freude seyn.

Rothkäppchen.

Ja, es hat manchen Zank gesetzt;

Aber die Mutter hat Recht, denn sie versetzt,

Das Trinken wär ihm an Arbeit hinderlich.

Der Vater ist ganz bös und wunderlich.

Großmutter.

Sei still, mein Tochter, es schickt sich weder

Daß Kinder dergleichen merken noch reden.

Rothkäppchen.

Das hat ihm Mutter auch zu Gemüth geführt,

Daß er sich nicht ein bischen vor mir genirt,

Wenn er des Abends betrunken heime schwärmt

Und ohne Ursach zankt und lärmt. —

Ich habe dir schönen Blumen mitgebracht,

Bald hätt ich daran nicht gedacht,

Es lacht von rother Blüthe der ganze Wald,

Von tausend Vögeln das grüne Dickicht schallt.

Großmutter.

Ei sieh, wie du in deiner Tasche fast

Die lieben Blümchen ganz zerknittert hast!

Du bist und bleibst ein wildes Ding.

Rothkäppchen.

Als ich so auf dem Fußsteig ging,

Wars, als hätt ich sie pflücken müssen,

So lachten sie zu meinen Füßen;

Ich dachte, du könntest sie vors Fenster stellen. —

Horch! was müssen denn wohl die Hunde so

bellen?

Großmutter.

Man spricht, daß sich seit ein'gen Tagen

Ein Wolf hier zeigt, den mögen sie wohl jagen.

Rothkäppchen.

Hier ist es recht lustig vor deinem Haus,

So dicht am Fenster der Wald da draus,

Vögel springen und singen ohne Rast

Und zwitschern munter von Ast zu Ast;

Magst du wohl die kleinen Vöglein leiden?

Großmutter.

Ich sehe sie an mit vielen Freuden,

Sie sind schon immer recht frühe munter

Und singen den grünen Wald hinunter,

Sie musiziren mit solcher Pracht,

Daß einem das Herz im Leibe lacht.

Rothkäppchen.

Was ist das für ein Baum da, dessen Blätter

So hastig flispern, als wenn sie zittern?

Großmutter.

Der wird der Espenbaum genannt.

Rothkäppchen.

Aha! Mir ist ein Sprichwort bekannt:

Er zittert wie 'ne Espe; das kommt daher!

Wovon zittert aber wohl der Baum so sehr?

Großmutter.

Das will ich dir gern sagen, mein Kind,

Nur schlag es nicht gleich wieder in den Wind

Als unser Herr Christus in Menschengestalt

Hatt' auf der Erde seinen Aufenthalt,

Da wandelt' er oft durch Berg und Wald.

Rothkäppchen.

Er hat auch in der Wüsten gereist

Und da fünf tausend Mann gespeist;

Dann hat er viele Quaal erfahren,

Ist endlich gar gen Himmel gefahren.

Großmutter.

Recht! es ist viel in deinen Jahren

Daß du schon so viel Gottes Wort weißt.

Rothkäppchen.

Im Katechismus steht es Wort für Wort.

Großmutter.

Herr Christus reiste von Ort zu Ort,

Seine Lehr zu predigen, Kranke zu heilen,

Und uns sein Evangelium zu ertheilen.

So ging er auch einst durch einen Wald,

Die Bäum' erkannten ihn alsbald,

In ihrer Unvernunft fingen sie an sich zu neigen

Und bis auf die Erde herunter zu beugen,

Rauschten dazu, als wenn sie grüßten

Und seine heiligen Fußstapfen küßten,

Die Eiche, die Buche, und wie man sie nennt,

Machen vor Gottes Sohn ihr schön Compliment.

Wie sich nun jeder Baum in Demuth wendt,

Sieht der Herr Jesus, daß das Espenholz

Grad aufrecht steht in seinem dummen Stolz,

Ihm auch durchaus will keine Ehr erzeigen,

Den steifen Rücken nicht zur Demuth neigen.

Da sprach der Herr: du willst mich nicht begrüßen,

Du stellst dich an, als wär ich nicht zugegen,

Dafür sollst du beständig rauschen müssen

Und dich in allen deinen Zweigen regen,

Und selbst im allerstillsten Wetter

Mit deinen grünen Läubern zittern!

Die Angst befiel den Baum, als er so sprach,

Er zittert fort bis an den jüngsten Tag.

Rothkäppchen.

Ja, ja, wer nicht bei Zeiten hört, der fühle! —

Leb wohl, ich geh zurück, noch ist es kühle.

Großmutter.

Mein Kind, eh du dich nun entfernt,

Sing noch das Lied, das du gelernt.

Rothkäppchen (singt).

Misekätzchen ging spazieren

Auf dem Dach am hellen Tag,

Macht sich an den Taubenschlag,

Eine Taub' zu attrapiren.

Miau! Miau!

Schlüpft wohl in das Loch hinein,

Aber kaum ist sie darein,

Ist der Appetit vergangen:

Eine Falle, siehst du, fällt,

Für den Marder aufgestellt,

Und das Kätzchen muß drin hangen,

Und im Sterben schreit sie: trau

Nicht auf Diebstahl je, Miau!

Großmutter.

Das ist ein schönes Lied, das nimm in Acht,

Untugend hat noch nie was eingebracht. —

Grüß deine Mutter, ich lasse mich bedanken,

Daß sie nicht vergißt die Alten und Kranken.

Rothkäppchen.

Leb wohl, Großmutter! ich komme wohl wieder,

Und bringe Nachmittag noch Essen herüber. (geht.)

Großmutter.

Da läßt der Ruschel die Hofthür auf!

Nun kann jeder zu mir den Hof hinauf;

Sie bleibt so wild wie sie nur war

Und kömmt doch in die erwachsene Jahr:

Doch hat es eben nichts zu bedeuten,

Es kömmt ja keiner zu mir heute.

Es ist wahr, nichts über das Mädchen geht,

Und wie ihr das rothe Mützchen steht!

–––

 

 

Zweite Scene.

(Der Wald.)

–––

 

Der Jäger tritt auf.

Jäger.

Immer und ewig ein Jäger zu seyn,

Das will mir gar nicht den Kopf hinein;

Bei Tag und Nacht den Wald durchrennen,

Wenn andre zu Hause sitzen können,

Im Schnee, in der Kält' und Hitze,

Ist dem gesundesten Körper nicht nütze.

Heut ist im Dorfe kein so armer Flegel,

Der nicht seine etliche Stämme kegelt,

Am Abend sitzet bei den Wenzeln,

Und ich muß mich hier im Wald rum hänseln,

Einem Wolf auf die Spur zu gerathen,

Was noch am Ende dient zu meinem Schaden. —

Wärst du nicht, Toback,

Wär das Leben gar ärmlich,

Es stände um uns Lumpenpack,

Dann wahrlich gar zu erbärmlich.

(er schlägt sich Feuer zur Pfeife an.)

Wunderlich! wie das Feuer im Stein

Und Stahle muß verborgen seyn!

Worauf der Mensch doch nicht gekommen!

Wie alle Kunst ihren Ursprung genommen!

Es ist erstaunlich, was im Menschen liegt,

Und wie er alles zu seinem Nutzen fügt;

Und alle Tage bringt mans weiter,

Unsre Kinder werden noch gescheidter,

Der Kopf wird den Leuten gar zu voll,

Man begreift nicht, wo's mit all dem Verstande

hin soll.

Rothkäppchen kömmt.

Jäger.

Ei Rothkäppchen, sey tausendmal willkommen!

Bist du schon so früh ausgegangen?

Rothkäppchen.

Ich bin von meiner Großmutter gekommen.

Ihr jagt heut?

Jäger.

Ja, es gilt dem Rangen,

Dem Wolf, der hier im Walde ist,

Und manch unschuldig Lämmchen frißt.

Rothkäppchen.

So ists doch wahr, was die Leute sagen?

So dürfte sich ein Wolf so nahe wagen?

Jäger.

Sie sind unverschämte Gesellen,

Die sich gern aller Orten einstellen.

Rothkäppchen.

Fürcht't ihr euch nicht, ihm zu nahe zu kommen?

Jäger.

Ich hab' ihn schon längst aufs Rohr genommen.

Ihn fürchten? Da wär' ich ein rechter Wicht!

Ich fürchte den leibhaftgen Teufel nicht.

Rothkäppchen.

O sprecht nicht so, wenn er nun käme,

Und euch so unversehens nähme.

Jäger.

Ein Jäger muß haben firmen Muth,

Ein großes Herz, ein braves Blut,

Keine Gefahr nicht achten, kein Wetter scheun,

Sonst sollt' er zum Ofensitzer besser seyn.

Rothkäppchen.

Ihr seyd heut in der neuen Jacke,

Darzu glänzt auch der Hirschfänger schön.

Jäger.

Wenn ich den Monsieur Wolf nur packe,

So ists gewiß um ihn geschehn.

Kleidt michs nicht gut, das neue Tuch?

Rothkäppchen.

Es ist für so was gut genug.

Jäger.

Was hast du daran auszusetzen?

Rothkäppchen.

Die Jacke würde euch noch besser sitzen,

Wär' sie schön roth, wie meine Mütze.

Jäger.

Die ganze Welt kann doch nicht wie deine Mütze

seyn,

Es muß auch andre Farben geben;

Die grüne Farbe, bei meinem Leben,

Die macht einen allerliebsten Schein.

Rothkäppchen.

Grün ist ganz gut und dient zur Noth,

Doch geht keine Farbe über Roth.

Jäger.

Der Wald ist grün, die Erde ist grün,

Wo du nur wendest dein Auge hin, —

Es ist was in der Farbe, — ein Wesen, —

Ein Glanz, — versteh, — ein gewisses Wesen —

Rothkäppchen.

Das Grün ist wie geringe Leut,

Man findet es so allerwege,

Auf jedem Busch, jedwed Gehege

Da wächst es; ach du liebe Zeit!

Doch ist von da zu Roth noch weit.

Das Roth macht gleich die Augen rege;

Wie viel bekömmt ein Kind nicht Schläge,

Daß ihn das Naschen wohl gereut.

Wo sich was Rothes läßt erblicken

Ist auch die rothe Lippe da

Und ißt, und wärs ein unreif Häppchen.

Wie selig, wem es mochte glücken,

Daß er auf seinem Kopfe sah

Wie ich, ein schönes rothes Käppchen.

Jäger.

Du bist ein Närrchen, gieb mir einen Kuß.

Rothkäppchen.

O geht der Toback macht mir nur Verdruß.

Jäger.

Du Schelm, willst du nicht Toback riechen,

Wirst du nimmermehr einen Ehmann kriegen. (geht ab.)

Rothkäppchen.

Die meinen immer, daß wenn man sie nicht nimmt,

Man eben gar keinen Mann bekömmt,

Hat einer nun vollends eine neue Jacke angezogen,

So denkt er gar, ihm ist jeder gewogen.

Zwei Rothkelchen fliegen vom Baum und

springen um sie her.

Die Vögel.

Rothkäppchen! Rothkäppchen!

Rothkäppchen.

Was wollen die Vögel von mir?

Die Vögel.

Schön guten Tag! Wo gehst du von hier?

Rothkäppchen.

Nach Hause. Ei sieh die artigen Dinger,

Wie sie auf den kleinen Beinchen springen!

Die haben auch Roth um den Hals und die Brust;

So'n Vögelchen ist eine herrliche Lust!

Die Vögel.

Du bist ein Rothkehlchen,

Wir sind wie Rothkäppchen,

Das macht uns Freuden:

Wir sind dir gut,

Freundliches Blut,

Magst du uns leiden?

Rothkäppchen.

Ach, ihr lieben Gesellen,

Hat euch nicht Gott der Herr eben

Selbst rothe Mützchen gegeben?

Wer wollte solch Urtheil fällen,

Daß er an den lieblichen hellen

Bunt Farben und lustigem Leben,

Nicht hätte Gefallen so eben

Wie an dem Traurig stellen?

Den Kummer laß ich fahren,

Ich glaube dreist daran,

Ich darf es immer wagen:

Komm ich zu erwachsenen Jahren,

Zieh ich, wie es beliebt, mich an,

Will auch dann ein rothes Käppchen tragen! (sie

geht ab.)

Die Vögel.

Rothkäppchen, Rothkäppchen ist unser Freund!

Wie lieblich warm die Sonne scheint! (fliegen fort.)

–––

 

 

Dritte Scene.

(Dickicht im Walde).

–––

 

Der Wolf.

Muß nun hier in den dichtesten Gesträuchen

Wie ein Vertriebener auf und nieder schleichen,

Und bin verstoßen und ausgetrieben.

Da ist kein Wesen, das mich möchte lieben;

Keiner kömmt mir nah, keiner mag mir traun,

Sie alle mit Abscheu auf mich schaun.

Und warum wird mir dies alles gethan?

Weil ich nicht heucheln und schmeicheln kann.

Weil ich mich nicht erniedern will zum Knecht,

So denkt ein jeder von mir schlecht. —

Wie oft bin ich gekränkt und verkannt,

Und umgetrieben von Land zu Land,

Vergeblich suchend die Sympathie,

Wohl Schläge fand ich, doch nimmermehr die;

Nach mir geworfen, mit Pulver geschossen,

Und Fallen gestellt, und dergleichen Possen;

Man schrie, wo ich mich ließ sehn bei Tageshelle:

Da geht der Wolf! den nehmt beim Felle!

Und dennoch reden sie von Toleranz,

Und dünkt sich duldend jeder Alfanz

Wenn er des Sonntags im ordinären Rocke geht,

Bei Aermern auch Gevatter steht.

Und noch menschlicher als der Mensch ist der Hund,

Mein Geschwisterkind, und doch im Bund

Mit unserm gemeinschaftlichen Tyrannen.

Da kommt ja Spitz, mein Freund! von wannen

Des Weges, guter, edler Spitz?

Der Hund tritt auf.

Hund.

Sieh da! ist hier dein Sommersitz?

Ich geh ein wenig rum spatzieren,

Ein Kaninchen oder Hasen zu attrappiren,

Nur fürcht' ich mich vor des Jägers Büchsenschuß,

Denn so ein Kerl versteht über Jagd keinen

Spaß.

Wolf.

Bist du noch bei Rothkäppchens Vater in Dienst?

Hund.

O ja, ich habe da guten Gewinnst,

Die Wirthschaft ist groß, und manches bleibt über

Was sie mir als andern gönnen lieber,

Das Kind im Hause ist mir auch gut

Und steckt mir heimlich manches zu,

Wofür ich denn die Katze vexire,

Auch Stöckchen aus dem Wasser apportire,

Lege mich auf den Rücken und stelle mich todeutsch

Gottlob! ich leide jetzt keine Noth.

Wolf.

Das sind die Künste, die finden ihr Brod!

Hund.

Jetzt ist seit vierzehn oder zwanzig Tagen

Im Wald mit Essen ein vieles Tragen,

Die Großmutter ist krank und wird gepflegt,

Für mich mancher Knochen beiseit gelegt.

Die Alte stirbt vielleicht, zum Lohn

Erbt ihr Vermögen der Schwiegersohn;

Der kann es brauchen, er säuft gern viel,

Verliert auch sein Geld im Kartenspiel.

Nur ein gewisser philosophscher Trieb

Ist mir in meinem Wesen nicht lieb:

Letzt schleppt das Kind einen Stein herbei,

Der wiegt wohl mehr als ihrer drei,

Und wirft mir den vor meine Füße,

Mir wars, als ob ich ihn apportiren müsse,

Ich konnt' ihn nicht regen und nirgend fassen,

Und mußt' ihn auf der Erde liegen lassen;

Doch immer wieder, geh ich dort vorbei

Ist mirs, als ob es möglich sey,

Ich will ihn tragen, ich will ihn heben,

Ich knurr', es verkümmert mir mein Leben;

Bald muß ich hier, bald dort probiren,

Ich kanns schon in den Zähnen spüren.

Der Alte lacht mich aus; ja von Natur versteht er

Wohl nichts, er spricht: seht doch den dummen

Köter!

Wolf.

Ich möchte nicht seyn in deiner Lage,

Du lebst doch nur erbärmliche Tage,

Hast keinen eignen Willen, bist nicht frei,

Kriegst auch Schläg' ohn' Ursach. Verzeih,

Daß ich dir alle deine Freude

Und deinen edlen Stand verleide!

Hund.

Sprich immer, denn ich kenne dich schon,

Weiß auch, daß man die Spekulation,

Selbst die beste, und alle Theorie,

Muß mengen ins praktische Leben nie.

Wolf.

Ei sieh, du bist über alles getröstet,

Wie ein Braten von beiden Seiten geröstet.

Du gehst am Ende und giebst mich an.

Hund.

Nein, wisse, ich bin ein ehrlicher Mann,

Du bist von vordem mein lieber Kumpan,

Wärst du ein klein wenig human

Und ließest die wilde Gesinnung fahren,

So würde was aus dir mit den Jahren.

Wolf.

Nein, Freund, wir wollen uns so was ersparen.

In der Kindheit, ich denke noch immer mit Thränen

An jene Tage der Unschuldzeit,

Wie hatt' ich da ein inniges Sehnen,

Wie trug ich von Wirken und Nützen ein Wähnen,

Wie war ich zu herrlichen Thaten bereit!

Es kann sich keiner in Idealen

So weit versteigen, so prächtig sie mahlen,

Wie ich alle Talente und alle Kräfte

Nur widmen wollte dem Menschheitsgeschäfte,

Dem herrlichen Fortrücken des Jahrhunderts,

Versprach von meinem Wirken mir viel Wunders,

Und alles lief gar lausig ab,

Wie ich dir schon sonst erzählet hab.

Hund.

Erzähle noch einmal, ich höre dir zu,

Es sitzt sich hier gut in der stillen Ruh.

Wolf.

Du weißt, wie damals, als ich dich kennen lernte

Beim Bauer Hans, wo du dientest als Knecht,

Ich mich aus meinem Wald entfernte

Und alle Künste des Hundes lernte,

Verläugnete ganz mein eigen Geschlecht,

Um nur dem Staate zu werden recht.

Ich verscheuchte die Diebe, bewachte den Hof,

Im Regen lag ich, daß der Pelz mir troff,

Erlitt oft Hunger, der Prügel nicht wenig,

Doch war ich in meinen Gedanken ein König;

Ich nutzte, und war mit meiner Bestimmung zu-

frieden,

Mir schien ein herrliches Loos beschieden.

Hund.

Still! mir ist, als ob ich Hasen spüre.

Wolf.

Sei ruhig, du Narr, hör zu und verstöre

Mir meine tragische Leidensgeschicht

Durch derlei platten Egoismus nicht.

Vernimm denn, wie es ein Ende nahm,

Und wie ich durch Erfahrung dazu kam,

Die Menschen zu hassen, die ich wie Brüder

Geliebt, die ich meine Freunde geheißen;

Jetzt sind sie mir in den Tod zuwider,

Ich möchte sie alle mit den Zähnen zerreißen! —

Meine Phantasie stand damals in ihrer Blüte

Und jugendlich schön war mein Gemüthe,

Ich ging im Walde zuweilen spatzieren,

Mußt mir das Glück eine Wölfin zuführen.

O Freund! was lernt ich da erst kennen,

Einen Leib, so unbeschreiblich hold,

Einen Geist, mit keinen Worten zu nennen,

Verstand, nicht zu bezahlen mit Gold,

Man hätte von ihr ein Buch schreiben können,

Elisa, oder die Wölfin wie sie seyn sollt!

Hund.

Erspare dir das Entzücken, mein Freund,

Du hältst mich auch für verliebt, wies scheint.

Wolf.

Was soll ich dir sagen? Ich liebte sie, sie mich,

Unsre Wonnemonde waren so wonniglich;

Ich sah sie im Wald, sie besuchte mich heimlich,

Wir wünschten, wir wären unzertrennlich.

Eines Morgens verspätet sich die Theure,

Die Bauren kommen zum Dreschen in die Scheure,

Finden da das unvergleichliche Weib,

Drauf mit den Dreschflegeln über den zarten Leib,

Und hast du nicht gesehn, von Wuth gezügelt,

Die Geliebte vom Hofe herunter geprügelt!

Hund.

Da war dir wohl die Petersilie verregnet?

Wolf.

Ist es so, daß ihr der Liebe begegnet,

Ihr Menschen? dacht ich in meinem Sinn,

Doch unterdrückt ich meinen Grimm,

Ich lernte mich unter der Noth bequemen,

Die Leidenschaft meines Herzens zähmen.

Es währte nicht lange, so merkten's im Dorf

Ich sey kein Hund nicht, sondern ein Wolf.

Was liegt am Namen? da sie mich kannten,

Da ich so treue Dienste gethan?

Doch war ich seitdem ein verlorner Mann,

Weil sie dies Vorurtheil nicht verbannten.

Man traut mir nicht, man legt mich an die Kette,

Als wenn ich ein Verbrechen begangen hätte.

Ich fügte mich mit O! und Ach!

Auch wieder in die neue Schmach;

Doch Nachts vernahm ich einen Plan,

Vor dem mein ganzes Blut gerann:

Man beschloß, mich so in Fesseln zu legen,

Daß ich nicht Hand nicht Fuß könnte regen;

Hernach, so hört' ich sie sich besprechen,

Wollten sie mir ungesäumt die Zähne ausbrechen,

So könnten sie mit mir machen, was sie wollten,

Und wenn sie mich auch schinden sollten;

Könnten mich auch an Bärenführer verkaufen,

So müßt ich als Narr die Märkte durchlaufen,

Und wär man meiner satt, könnte man ohne Gefahr

Mich augenblicklich todtschlagen gar.

O Spitz, wie das mein Herz durchschnitt!

Hund.

Sie spielen einem kuriose mit.

Wolf.

Meiner Wuth riß die Kette bald,

So rannte ich in den nächsten Wald.

Ich will schweigen, was ich seitdem erfuhr,

Denn es empört die geduldigste Natur;

Kugeln summten oft dicht um die Ohren,

Eisen waren mir mörderlich gestellt,

Hunde hatten mich oft beim Fell:

O Freund, nirgends ist eine Creatur.

So schlimm in aller weiten Welt

Als wie ein armer Wolf geschoren.

Seitdem ist aber auch mein Plan,

Unheil zu stiften, so viel ich nur kann;

Seitdem thut mir nichts gut,

Als nur der Anblick von Blut.

Ich will alles Glück ruiniren,

Dem Bräutigam seine Braut massakriren,

Die Kinder von den Eltern trennen,

Und was man Unglück nur kann nennen,

Darauf soll dieser Kopf auch sinnen.

Man hat mich so weit endlich getrieben,

Ich will sie fressen, da sie mich nicht lieben,

Und wärst du nicht mein Vertrauter eben,

Ich hätte dir schon den Rest gegeben.

Hund.

Gehorsamer Diener, für die gütige Ausnahm!

Doch hast du denn keine Schand' noch Schaam,

Daß dich nicht dein böser Vorsatz gereut?

Glaubst du denn nicht an Unsterblichkeit?

An Bestrafung nach dieser Zeitlichkeit?

Wolf.

Nein, Kerl, ich halte alles für Aberglauben!

Die Freuden dort sind gewiß nur Trauben

Die uns zu hoch hängen, mein dummer Freund,

In gar zu weitem Felde das scheint:

Was ich fresse in meinen Leib hinein,

Das ist gewiß und wahrhaftig mein!

Kann mich zu keiner andern Lehr bequemen.

Hund.

Ei pfui! ich muß mich für euch schämen,

Will auch nicht mit euch Umgang weiter pflegen,

Ich geh, aus Furcht der Ansteckung wegen.

(ab.)

Wolf.

Das sind die Köpfe, so dumm und seicht,

Die jede Furcht und Beklemmung erreicht,

Die nichts von Kraft und Selbständigkeit wissen;

Hätt' ich ihn doch lieber in Stücke zerrissen!

Doch will ich sein liebes Rothkäppchen fangen,

Das ist seit lange schon mein Verlangen;

Ihr Vater ist überdies ein Mann

Der mir schon tausend Drangsal angethan.

Will mich auch auf den Weg gleich machen,

Hungert mich recht nach ihr in meinem Rachen.

(geht ab.)

–––

 

 

Vierte Scene.

(Fußpfad im Wald.)

–––

 

Rothkäppchen, Hanne.

Hanne.

Es wird schon finster, ich gehe nicht weiter.

Rothkäppchen.

Nicht doch, die Sonne scheint noch so heiter.

Hanne.

Es wird dunkle und finstre Nacht

Eh' ich den Weg zurück gemacht.

Peter tritt mit seiner Braut auf.

Braut.

Ei Rothkäppchen? gehst du auch noch spatzieren?

Peter.

Ich muß die Kleine immer vexiren,

Es ist ein allerliebstes Kind. —

Nun, Rothkäppchen, wie bist du denn gesinnt,

Willst du noch mein Bräutchen seyn?

Peter.

Das nehmen wir nicht so genau,

Du wirst dann meine zweite Frau.

Braut.

Glaubs nicht, er spricht nur wie ein Tropf!

Peter, setz dem Kinde nichts in den Kopf.

Rothkäppchen.

Laß ihn nur reden, Anne Marie,

Ich nähme doch den Peter nie,

Er gefällt mir schon jetzt nicht sonderlich,

Dann wär er gar alt und krüppelich;

Wird mich schon, ohne mich an ihn zu hangen,

Ein beßrer Bräutigam zur Braut verlangen.

Braut.

Siehst du, das kommt von deinem Vexiren,

Die weiß die Leute abzuführen,

Die ist so klug wie wir jetzt wohl sind

Und ist noch ein kleines buttiges Kind.

(gehn beide.)

Hanne.

Sie sagte, du wärst ein buttiges Kind.

Rothkäppchen.

O laß sie nur, denn beide sind

So er wie sie etwas dümmerlich,

Drum antworten sie so kümmerlich.

Er hätte keine andre Braut getroffen,

Sie durfte auf keinen andern Bräutigam hoffen,

Drum halten sie viel von einander mit Recht,

Und meinen nun jetzt, sie wären nicht schlecht.

Hanne.

Hier steht eine Butterblume, die will ich blasen,

Zu sehn wie lang ich noch soll leben.

Ein Bauer geht vorbei.

Bauer.

Mich wundert, daß man die Kinder läßt so rum

rasen,

Die kämen dem Wolf gerade gelegen.

Geht nach Hause, Kinder, das ist gescheidt,

Es wird schon Abend, da ist es Zeit.

Rothkäppchen.

Ich geh zu Großmutter, bring ihr Abendbrod,

Mit eurem Wolf hats keine Noth.

Bauer.

Wenn er dich erst wird massakriren,

Wirst du wohl 'ne andre Sprache führen.

Das ist jetzt bei Kindern 'ne dumme Weis,

Sie werden gar zu naseweis

(geht ab.)

Hanne.

Sieh da, ich lebe wohl noch hundert Jahr.

Kuckuck (hinter der Scene).

Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!

Rothkäppchen.

Das wäre doch ein bischen gar zu lang.

Hanne.

Ne, ne, es trift dir auf ein Haar.

Nun ist mir nicht vor dem Wolfe bang.

Rothkäppchen.

So will ich doch auch mein Glück erproben.

(sie bläst auf die Blume.)

Sieh, da ist alles rein weg gestoben.

Hanne.

Ach, armes Kind! So bald zu sterben!

Rothkäppchen.

So sollst du mein roth Käppchen erben.

Doch leb ich wohl länger wie du mit Luft,

Denn man sieht ich hab' eine bessere Brust,

Drum sind die Haare so weg geflogen.

Meine Mutter hat mich zu gut erzogen,

Als daß ich an so was glauben sollte,

Ich wüßte auch nicht, wie es die Blume wissen

wollte;

Erst ist sie gelb, und wird dann greis,

Wie ein kindlicher Mann, der von sich nicht weiß,

Da steht sie am Wege und kömmt ein Wind

Ihr alle Haare ausgerissen sind.

Kuckuck.

Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!

Hanne.

Das glaubst du nicht? So weiß ich noch was:

Frag den Kuckuck, wie lang du zu leben hast;

Wenn ders nicht weiß, so weiß es keiner.

Rothkäppchen.

Ja solchen Vögeln trau nur einer,

Der sitzt in seiner Dunkelheit,

Wo er aus Langeweile schreit.

Kuckuck! wie lange hab ich zu leben? — —

Hanne.

Siehst du! er will keine Antwort geben.

Ach, armes Kind! so lebe wohl,

Und wenn ich dich nicht wieder sehen soll,

So gedenke im Tode zuweilen meiner,

Dafür gedenk ich im Leben deiner.

(geht ab.)

Rothkäppchen.

Das kleine Mädchen ist nicht recht klug

Und für ihr Alter noch dumm genug.

Kuckuck kommt auf die Scene.

Rothkäppchen.

Was will der Vogel von mir haben?

Kuckuck.

Kuck um dich! Kuck! Kuck! sollst Vorsicht haben!

Kuck! Kann nicht sprechen, wie ich wollt; —

Kuck! Kuck! Kuck um dich der Wolf, —

Kuck! Kuck!

(fliegt ab.)

Rothkäppchen.

Kuck! kuck! der hats im Reden nicht weit gebracht,

Ich hätte beinah über den Narren gelacht.

Der Hund kommt.

Rothkäppchen.

Ei, Hund! Wo kommst du her? Wie er schmeichelt,

Wie er sich an der Seite streichelt,

Wo er merkt, daß ich das Essen trage.

Hund.

Bau, bau nicht zu sehr auf Sicherheit.

Rothkäppchen.

Wenn ich nach Hause komme, dann frage

Nur nach, dann ist deine Essenszeit.

Hund.

Bau, bau auf deinen Muth nicht zu sehr,

Ich komm, bau, bau, und knie vor dir her,

Kann nicht recht sprechen;

Bau, bau, trau, bau nicht zu sehr,

Der Wolf kann dich fressen.

Rothkäppchen.

Geh, alberner Hund, nun ist es Zeit,

Du bist im Kopf nicht recht gescheidt!

(geht ab.)

Hund.

Bau, bau und trau nicht zu sehr!

Kuckuck.

Kuck, kuck, kuck um dich mehr!

Nachtigall hinter der Scene.

Tirili! von allen

Vögeln hoch und tief Gesänge schallen, schallen,

Sie lallen

In tausend Zungen,

Wird von allen gesungen,

Doch ist es keinem als mir gelungen,

Honetten, netten Leuten zu gefallen, allen, schallen.

Kuckuck.

Kuck, kuck den Hochmuth!

–––

 

 

Fünfte Scene.

(Stube.)

–––

 

Der Wolf im Bett.

So war ich glücklich herein gekommen

Und habe der alten Frau das Leben genommen,

Die Thür stand, gegen mein Verhoffen

Im Hof' und auch im Hause offen;

Die Alte war erzürnt und wollte sich wehren,

Doch durft' ich mich daran nicht kehren,

Nun ist sie erwürgt, liegt unter dem Bette;

Wünscht' nur, daß ich Rothkäppchen hier hätte.

Doch will ich schlau die Sache anstellen

Und mich als das alte Weib jetzt stellen;

Ich setze die Haube auf, es wird schon finster,

Es kommt nicht viel Licht durch die Fenster,

So lieg' ich im Bett, als wär' ich kränklich.

Ich höre sie schon, sie kommt nachdenklich.

Rothkäppchen tritt herein.

Rothkäppchen.

Großmutter, bist du schon zu Bett gegangen?

Wolf.

Schon seit einer Stunde, ich hatte Verlangen

Dich, liebes Kind, wieder zu sehn, mir ist nicht

wohl.

Rothkäppchen.

Ich dich von der Mutter schön grüßen soll,

Sie schickt dir ein gekochtes Huhn,

Das wird dir wohl in der Schwachheit thun.

Der Vater war nicht gut aufgelegt,

Ich lief schnell fort, weil er manchmal schlägt,

Er will nicht immer, daß ich zu dir gehe

Und dir in deiner Noth beistehe. —

Du liegst zu Bett, doch am verkehrten Ende.

Ei, Großmutter, was hast du für närrische

Hände?

Wolf.

Sie sind gut, damit was fest zu halten.

Rothkäppchen.

Es wollten zu Hause die beiden Alten,

Daß ich die Nacht bei dir bleiben sollte.

Wolf.

Das war es, was ich selber wollte.

Rothkäppchen.

Sie sagen, es ist nicht gut in der Nacht zu gehn,

Man könnte mir da nicht für Schaden stehn. —

Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren!

Wolf.

Ich kann damit desto besser hören.

Rothkäppchen.

Das Fenster steht auf, es zieht kalt herein.

Wolf.

Laß nur, im Bett wird dir wärmer seyn.

Rothkäppchen.

Ich hatte so zu dir zu kommen Verlangen,

Nun wird mir hier in der Stube so bange.

Ei, Großmutter, was hast du für große Augen!

Wolf.

Desto besser sie zum Sehen taugen.

Rothkäppchen.

Auch die Nase sitzt dir nicht so wie immer.

Wolf.

Mein Kind, das macht der Abendschimmer.

Rothkäppchen.

Ei Herr Je! was hast du für'nen großen Mund!

Wolf.

Desto besser er dich fressen kunnt!

Rothkäppchen.

Ach! Hülfe! Hülfe! kommt, helft meiner Noth!

Wolf.

Du schreist vergebens, du bist schon todt!

(Der Vorhang des Bettes fällt zu.)

Die beiden Rothkehlchen fliegen durch das Fenster.

Erster Vogel.

Komm, laß uns durch das Fenster fliegen.

Zweiter Vogel.

Rothkäppchen ist drinne, unser Vergnügen.

Erster Vogel.

Sie liegt wohl im Bett, ich seh' nach ihr.

(hüpft hinter den Vorhang.)

Zweiter Vogel.

Die Luft zieht hübsch durch Fenster und Thür.

Erster Vogel (kommt zurück.)

O weh! O weh! O Jammer und Noth!

Zweiter Vogel.

Was giebts?

Erster Vogel.

Der Wolf ist da, Rothkäppchen schon

tobt.

Beide.

O weh! o weh! der großen Noth!

Der Jäger sieht zum Fenster herein.

Jäger.

Was schreit ihr denn so gar erbärmlich?

Die Vögel.

Rothkäppchen ist todt ganz Gotts erbärmlich!

Der wilde Wolf hat sie zerrissen,

Und auch zum Theil schon aufgefressen.

Jäger.

Daß Gott erbarm! ich schieße zum Fenster hinein.—

(er schießt hinein.)

Da liegt der Wolf und ist auch todt,

So muß für alles Strafe seyn,

Er schwimmt in seinem Blute roth.

Es kann einer wohl ein Verbrechen begehn,

Doch kann er nie der Strafe entgehn.

–––

 

Ludwig Tieck: Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens. Eine Tragödie.

In: Romantische Dichtungen von Ludwig Tieck. Zweiter Theil, Jena 1800, S. 465-506.

 

 

 

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