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Die Quellen

 

Charles Perrault: Petit Chaperon Rouge

 

In den Niederlanden ist aus dem 16. Jahrhundert der Hinweis auf eine seinerzeit bekannte Erzählung überliefert: „vele andere saghen vant Rootcousken.“ Für das Grimm'sche „Rotkäppchen“-Märchen führen also die Überlieferungswege weiter in die Vergangenheit zurück. Was die Entstehungszeit des inzwischen weltweit bekannten Textes betrifft, so tippen die einen mindestens auf die germanische Frühgeschichte, weil man Verwandtschaft mit dem Mythos vom Fenriswolf hypostasierte (was unbeweisbar ist), während andere die Erfindung der Geschichte in der heute vorliegenden Form frühestens im Jahr 1812 ansetzen, als der erste Band der Grimm'schen Märchen erschien. Gänzlich unhaltbar sind bis heute kursierende Gerüchte, Wilhelm Grimm habe das Märchen in der hessischen Schwalm oder in der Uckermark gehört, wo die jungen Mädchen ab dem 11. Lebensjahr ein rotes Käppchen trugen. Das habe ihn veranlaßt, das Mädchen und das ganze Märchen „Rotkäppchen“ zu nennen und indirekt dort zu lokalisieren. Das ist nachweislich falsch, denn in die Uckermark kam Grimm erst vier Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes der „Kinder- und Hausmärchen“. Überdies: Da seinerzeit alle Mädchen in der hessischen Schwalm rote Kappen trugen, wäre es sinnlos gewesen, darum den Namen und die Besonderheit seiner Herleitung an den Anfang der Geschichte, wie man sie seit 1812 kennt, zu stellen: Eines Tag schenkte die Großmutter dem Mädchen „ein Käppchen aus rotem Samt, und weil ihm das so wohl stand, hieß es nur das Rotkäppchen.“

Geht man dieses Namens wegen in die Zeit vor Grimm zurück, so stößt man auf Zeugnisse, die nun schon gar nichts mit Schwalm oder Uckermark in Verbindung gebracht werden können. Anfang 1791 kam ein Singspiel mit der Musik von Carl Ditters von Dittersdorf und dem Text von Goethes nachmaligem Schwager Christian August Vulpius heraus, das am 7. Mai 1791 auf der Weimarer Bühne gespielt wurde. Goethe lobte das Werk ausdrücklich noch in einer Notiz vom 9. Februar 1808: „Wer in Weimar mag sich nicht gern des 'Rothen Käppchens' erinnern, mit dessen heiterer Erscheinung das jetzige Hoftheater [in Dessau] eröffnet wurde.“

Vulpius hatte das 1781 in Venedig mit der Musik von Cimarosa aufgeführte Lustspiel des Dichters Filippo Livigni „Giannina e Bernardone“ übersetzt und bearbeitet; auf dem erhaltenen Theaterzettel einer Aufführung in Dessau (31. Juli 1794) steht als Titel „Das rothe Käppgen“, oder: Hilft's nicht, so schadt's nicht! Eine Komische Oper in drei Aufzügen nach der Vulpiusschen Bearbeitung.“

 

Andreas Meier erklärt die Wahl des deutschen Titels durch Vulpius: „So gipfelt sein Singspiel in einer dramatisch weitaus geschickteren Pointe, in deren Zentrum das titelgebende 'rote Käppchen' steht. […] Dem eifersüchtigen Dorfschulzen wird ein rotes Lederkäppchen verkauft, das den Träger bei seinem Partner unwiderstehlich machen soll.“

Die angeblich Wunder wirkende Kraft des Käppchens „hilft“ dem Träger gemäß dem Untertitel nicht in der versprochenen Weise, aber es „schadet“ auch nicht. Vulpius kannte offenbar Charles Perraults Märchenerzählung „Le petit chaperon rouge“ von 1697 und setzte den Namen des Mädchens im Titel seiner Bearbeitung ins Deutsche um. So war schon ein Anonymus im Jahr 1761 verfahren, der seine Übersetzung des Perrault-Textes mit „Die kleine Roth-Kappe“ überschrieben hatte. Ludwig Tieck nannte dann sein im Jahr 1800 erschienenes Märchendrama „Leben und Tod des kleinen Rotkäppchens“. […]

Die Märchenforscher Johannes Bolte und Georg Polívka haben 1913 auf eine im frühen 11. Jahrhundert verfaßte lateinische Erzählung verwiesen, die wohl als ältestes Zeugnis für einen Teil der Geschichte vom Rotkäppchen gelten kann: „Schon um 1023 berichtet Egbert von Lüttich in seiner lateinischen 'Fecunda ratis' ('De puella a lupellis servata' Über ein kleines Mädchen, das von jungen Wölfen gerettet wurde) als ein von Bauern gehörtes Abenteuer, wie man ein fünfjähriges Mädchen in einer Wolfshöhle fand, wo es mit den jungen Wölfen spielte und sie mahnte: 'Hanc tunicam, mures, nolite scindere, quam dedit excipiens de fonte patrinus!'“ – „Zerreißt meinen roten Rock nicht, ihr Mäuse! Den hat mir mein Pate geschenkt.“ Wie im Grimm'schen Märchen handelt es sich auch hier um ein Geschenk eines Verwandten an ein kleines Mädchen. Aus der roten Tunica wurde durch Bedeutungsverschiebung des Synonyms „cappa“ das rote Käppchen. Cappa war zuerst eine Bezeichnung für einen mantelähnlichen Umhang. Die Reliquie des Heiligen Martin, der nach der Legende seinen Mantel geteilt hatte, wurde cappa genannt (daher die Ableitungen „Kap-elle“ oder „Kap-lan“). Als man später unter cappa eine Kappe oder eine Kapuze verstand, wurde mit diesem Wort nicht mehr ein Mantel, sondern – pars pro toto – die Kapuze, der obere Teil des Umhangs, oder eben ein „Käppchen“ bezeichnet. So ist ja wohl auch die Tarnkappe Siegfrieds im um das Jahr 1200 aufgezeichneten „Nibelungenlied“ ursprünglich ein den ganzen Menschen umhüllender unsichtbar machender Umhang zu verstehen.

Aus all dem läßt sich mit gebotener Vorsicht schließen, daß mit dem „Rotkäppchen“ teilweise verwandte Geschichten schon im frühen Mittelalter kursierten.

Heinz Rölleke: Tausend Jahre „Rotkäppchen“. Präsenz einer Märchenfigur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. In: Musenblätter - Das unabhängige Kulturmagazin. Wuppertal 01.06.20. https://musenblaetter.de/artikel.php?aid=26981&suche=an

 

 

Eine der ältesten bekannten schriftlichen Fassungen des Märchens stammt von dem Franzosen Charles Perrault (1628–1703)  und wurde 1697 unter dem Titel „Le petit chaperon rouge“ veröffentlicht. Da die Erzählung für die Lektüre am französischen Hof von Versailles bestimmt war, verzichtete Perrault weitgehend auf Elemente, die als vulgär gelten könnten (z. B. Kannibalismus). Die Geschichte nimmt bei ihm kein gutes Ende, die Großmutter und das Rotkäppchen werden vom Wolf gefressen, ohne danach wieder gerettet zu werden. Perrault schreibt weniger ein Märchen als eine moralische Abschreckungsparabel. In seiner Version sind zahlreiche Anspielungen auf Sexualität zu finden (so legt sich Rotkäppchen auf dessen Aufforderung hin nackt zum Wolf ins Bett). Ans Ende ist zudem ein kleines Gedicht angehängt, das kleine Mädchen vor Sittenstrolchen warnt. Perrault hatte die Absicht, mit der Erzählung explizit Verhaltensmaßregeln festzulegen, und griff dabei zum Mittel der Abschreckung.
Wikipedia

 

Charles Perrault um 1690. Öl auf Leinwand Collection de l'Académie française.

 

Charles Perrault (1628-1703 war ein französischer Schriftsteller und hoher Beamter. Er wurde vor allem durch seine Märchensammlung Histoires ou Contes du temps passé („Geschichten oder Erzählungen aus alter Zeit“) berühmt und hat das Genre in Frankreich und damit in Europa popularisiert. Auch deutsche Autoren wie die Brüder Grimm, Ludwig Bechstein und der Oberpfälzer Volkskundler Franz Xaver von Schönwerth haben Märchen von ihm übernommen.

Perrault sollte jedoch vor allem durch seine Märchen berühmt werden. Schon von 1691 bis 1694 hatte er drei märchenartige Verserzählungen veröffentlicht: La Marquise de Salusses ou la Patience de Griselidis, Les Souhaits ridicules (1693) und Peau d’Âne, die er 1694 und nochmals 1695 als Bändchen herausgab. Nach diesem Erfolg publizierte er 1697 ohne Autorangabe acht Histoires ou Contes du temps passé, avec des moralités, die später auch als Contes de ma mère l’Oye firmierten. Gewidmet war die Sammlung Élisabeth Charlotte von Orléans, der Nichte Ludwigs XIV. Als Unterzeichner der Widmung und angeblicher Autor figuriert „P. Darmancour“, d. h. Perraults dritter, 1678 geborener Sohn Pierre. Die Angabe, die Geschichten stammten von „Mutter Gans“, bezieht sich offenbar auf Bertha, die legendäre Mutter Karls des Großen, die einen vom vielen Treten des Spinnrads verformten „Gänsefuß“ gehabt haben soll.

Die Märchen selbst stammten sowohl aus mündlicher Überlieferung als auch von anderen Autoren (z. B. Giovanni Francesco Straparola und Giambattista Basile). Perrault passte sie dem Geschmack des damaligen literarischen Publikums an, vor allem dem der Pariser Salons. So lässt er den einzelnen Texten, die er in bewusst schlichter, leicht archaisierender Prosa verfasst, jeweils eine sie witzig kommentierende und ironisierende „Moral“ in Versform folgen und manchmal sogar sich gegenseitig relativierende zwei solche Kommentare.

 

Die Prosamärchen (Histoires ou Contes du temps passé, avec des moralités, auch Contes de ma Mère l’Oye), 1697

Die schlafende Schöne im Walde (La belle au bois dormant, zuerst 1696), aus Grimms Märchen als Dornröschen bekannt

Rotkäppchen (Le petit chaperon rouge), Variante, bekannt durch Grimms Märchen

Blaubart (La Barbe bleue)

Meister Kater oder Der Gestiefelte Kater (Le Maître Chat ou le Chat botté), bekannt durch Grimms Märchen als Der gestiefelte Kater

Die Feen (Les Fées)

Aschenputtel oder Der kleine gläserne Schuh (Cendrillon ou la Petite pantoufle de verre[1]), bekannt durch Grimms Märchen als Aschenputtel

Riquet mit dem Schopf (Riquet à la Houppe)

Der kleine Däumling (Le petit Poucet), später auch bei Ludwig Bechstein

 

Die acht Histoires ou contes du temps passé, avec des moralités („Geschichten oder Erzählungen aus alter Zeit, mit Moralen“) erschienen zuerst unter dem Namen von Perraults Sohn. Sie wurden gemäß dem Frontispiz der Originalausgabe und dem Titel des Manuskripts von 1695 auch als Contes de ma mère l’Oye (etwa „Geschichten meiner Mutter Gans“) bekannt und erschienen postum auch gemeinsam mit den drei (in Prosa verfassten) Versmärchen Perraults in einem Band (dann meist als Contes de fées, Contes des fées oder schlicht Contes überschrieben).
Wikipedia

 

  

Charles Perrault: Contes de ma mere l'Oye. Manuscript in a scribal hand, dated 1695. The Morgan Library & Museum, New York.

 

Dies ist das Originalmanuskript der Märchen von Mutter Gans, das Charles Perrault (1628–1702) zugeschrieben wird. Es ist auf das Jahr 1695 datiert und enthält die frühesten schriftlichen Fassungen und Illustrationen zu Dornröschen, Rotkäppchen, Der gestiefelte Kater, Blaubart und Die Feen (Aschenputtel ist nicht enthalten). Die Erzählungen, wie wir sie hier vorfinden, müssen mehr für die Kunstfertigkeit bewundert werden, mit der sie präsentiert werden, als für ihre Originalität. Jede der Märchen hat zweifellos ihren Ursprung in der Folklore und wurde mündlich überliefert. „Contes da ma mere l'Oye“ scheint in Frankreich ein traditioneller Begriff für solche Texte gewesen zu sein. Diese mündliche Überlieferung wird in der Illustration für das Frontispiz charmant dargestellt, wo wir eine Kinderfrau sehen, die ihren jungen Schützlingen am Feuer sitzend Geschichten erzählt. Märchen als literarische Gattung wurden am Hof von Ludwig XIV. in Versailles populär, und dieses Manuskript ist einer seiner jungen Nichten, Elisabeth Charlotte d'Orleans, gewidmet. Während ein Großteil der Märchenliteratur, die während der Herrschaft Ludwigs entstand, durch sprachliche Eleganz und höfische Ausschmückungen gekennzeichnet ist, ist der Text dieses Manuskripts außergewöhnlich in seinem einfachen, sparsamen Stil, in dem jeder Satz für die Entwicklung der Erzählung wichtig ist.

Contes de ma mère l'Oye | The Morgan Library & Museum Online Exhibitions

 

 

  

Histoires/ ou/ Contes/ du temps passÉ./ Avec des Moralitez./ A Paris./ Chez CLAUDE BARBIN, sur le second Peron de la Saint-Chapelle au Palais./ Avec Privilége de Sa Majesté./ M. DC. XCVII., PETIT CHAPERON ROUGE, S. 47-56.

 

PETIT CHAPERON ROUGE.

CONTE.

 

IL estoit une fois une petite fille de Village, la plus jolie qu’on eut sçû voir; sa mere en estoit folle, et sa mere-grand plus folle encore. Cette bonne femme luy fit faire un petit chaperon rouge, qui luy seïoit si bien que partout on l’appelloit le Petit chaperon rouge.

Un jour, sa mere, ayant cui & fait des galetes, luy dit, va voir comme se porte ta mere-grand, car on m’a dit qu’elle estoit malade, portes luy une galette & ce petit pot de beurre. Le petit chaperon rouge partit aussi-tost pour aller chez sa mere-grand, qui demeuroit dans un autre village. En passant dans un bois, elle rencontra compere le Loup, qui eut bien envie de la manger, mais il n’osa, à cause de quelques bucherons qui estoient dans la Forest. Il luy demanda où elle alloit; la pauvre enfant qui ne sçavoit pas qu’il estoit dangereux de s’arrester à écouter un Loup, luy dit, je vais voir ma Mere-grand, & luy porter une galette avec un petit pot de beurre, que ma Mere luy envoye. Demeure-t-elle bien loin, luy dit le Loup? Oh ouy, dit le petit chaperon rouge, c’est par de-là le Moulin que vous voyez tout là-bas, là-base, à la premiere maison du Village. Et bien, dit le Loup, je veux l’aller voir aussi; je m’y en vais par ce chemin icy, & toy par ce chemin-là, & nous verrons à qui plutost y sera. Le Loup se mit à courir de toute sa force par le chemin qui estoit le plus court, et la petite fille s’en alla par le chemin le plus long, s’amusant à cueillir des noisettes, à courir aprés des papillons, et à faire des bouquets des petites fleurs qu’elle rencontroit. Le Loup ne fut pas long-temps à arriver à la maison de la Mere-grand. Il heurte: Toc, toc, qui est-là? C’est vôtre fille, le petit chaperon rouge, dit le Loup, en contrefaisant sa voix, qui vous apporte une galette, & un petit pot de beurre que ma Mere vous envoye. La bonne Mere-grand qui estoit dans son lit à cause qu’elle se trouvoit un peu mal, luy cria, tire la chevillette, la bobinette cherra, le Loup tira la chevillette, & la porte s’ouvrit. Il se jetta sur la bonne femme, & la devora en moins de rien; car il y avoit plus de trois jours qu’il n’avoit mangé. Ensuite il ferma la porte, &t s’alla coucher dans le lit de la Mere-grand, en attendant le petit chaperon rouge, qui, quelque temps aprés vint heurter à la porte. Toc, toc: qui est là? Le petit chaperon rouge qui entendit la grosse voix du Loup, eut peur d’abord, mais croyant que sa mere-grand estoit enrhumée, répondit, c’est vostre fille le petit chaperon rouge, qui vous apporte une galette & un petit pot de beurre, que ma Mere vous envoye. Le Loup luy cria, en adoucissant un peu sa voix; tire la chevillette, la bobinette cherra. Le petit chaperon rouge tira la chevillette, & la porte s’ouvrit. Le Loup la voyant entrer, luy dit en se cachant dans le lit sous la couverture: mets la galette & le petit pot de beurre sur la huche, & viens te coucher avec moy. Le petit chaperon rouge se deshabille, & va se mettre dans le lit, où elle fut bien estonnée de voir comment sa Mere-grand estoit faite en son deshabillé, elle luy di, ma mere-grand que vous avez de grands bras! c’est pour mieux t’embrasser, ma fille: ma mere-grand que vous avez de grandes jambes! c’est pour mieux courir mon enfant: ma mere-grand que vous avez de grandes oreilles! c’est pour mieux écouter, mon enfant. Ma mere-grand, que vous avez de grands yeux! c’est pour mieux voir, mon enfant! Ma mere-grand que vous avez de grandes dens! c’est pour te manger. Et en disant ces mots, ce méchant Loup se jetta sur le petit chaperon rouge, & la mangea.

 

MORALITÉ

ON voit icy que de jeunes enfans,

Sur tout de jeunes filles,

Belles, bien faites & gentilles,

Font tres-mal d’écouter toute sorte de gens,

Et que ce n’est pas chose étrange,

S’il en est tant que le loup mange.

Je dis le loup, car tous les loups,

Ne sont pas de la même sorte;

Il en est d’une humeur accorte,

Sans bruit, sans fiel & sans couroux,

Qui, privez, complaisans & doux,

Suivent les jeunes demoiselles,

Jusque dans les maisons, jusque dans les ruelles;

Mais, hélas! qui ne sçait que ces loups doucereux,

De tous les loups sont les plus-dangereux!

 

 

ROTKÄPPCHEN.

Märchen

 

Es war einmal ein kleines Dorfmädchen, das hübscheste, das man je hätte sehen können; seine Mutter war darüber ganz verrückt und seine Ältermutter noch vielmehr. Die gute Frau ließ ihr ein rotes Käppchen anfertigen, das stand ihr so gut, dass es überall von jedem Rotkäppchen genannt wurde.

Eines Tages sprach die Mutter zu ihr, nachdem sie Pfannkuchen gebacken hatte: Geh hin und sieh nach, wie es deiner Ältermutter geht, denn man hat mir gesagt, dass sie krank sei, und bring ihr einen Pfannkuchen und dieses Buttertöpfchen. Rotkäppchen machte sich sofort auf den Weg zu seiner Ältermutter, die in einem anderen Dorf wohnte. Als sie durch einen Wald ging, begegnete sie dem Gefährten Wolf, der war sehr begierig, sie zu fressen, aber wegen einigen Holzfällern im Wald traute er sich nicht. Er fragte sie, wohin sie ginge; das arme Kind, das nicht wusste, dass es gefährlich sei, stehen zu bleiben und auf einen Wolf zu hören, sprach zu ihm: Ich gehe zu meiner Ältermutter und bringe ihr einen Pfannkuchen mit einem Buttertöpfchen, den schickt ihr meine Mutter. Wohnt sie recht weit weg? fragte der Wolf. O ja, sagte Rotkäppchen, dort jenseits der Mühle, dort, dort unten, sie wohnt am ersten Haus des Dorfes. Nun, sprach der Wolf, auch ich will sie besuchen. Ich nehme diesen und du jenen Weg, und wir werden sehen, wer eher da sein wird. Der Wolf lief mit aller Kraft auf dem kürzesten Weg, und das kleine Mädchen ging auf dem längeren Weg fort und vergnügte sich damit, Haselnüsse zu sammeln, nach Schmetterlingen zu jagen und Sträuße aus den kleinen Blumen zu binden, die es vorfand. Es dauerte nicht lange, bis der Wolf am Haus der Ältermutter ankam. Er klopfte: Poch, poch, wer ist da? Es ist Euer Tochterkind Rotkäppchen, sagte der Wolf und verstellte dabei seine Stimme, es bringt Euch einen Pfannkuchen und ein Buttertöpfchen, die Mutter schickt. Die gute Ältermutter, die in ihrem Bett lag, weil sie ein wenig unpässlich war, rief ihm zu: Zieh am Pflock und der Riegel wird fallen. Der Wolf zog am Pflock und die Tür ging auf. Er warf sich auf die gute Frau und fraß sie im Nu; denn es waren mehr als drei Tage vergangen, seit er etwas gefressen hatte. Dann schloss er die Tür, legte sich ins Bett der Ältermutter ein und wartete auf Rotkäppchen, das einige Zeit später an die Tür klopfte. Poch, poch, wer ist da? Rotkäppchen, das die laute Stimme des Wolfes hörte, erschrak zuerst, glaubte aber, die Großmutter sei erkältet, und antwortete: Euer Tochterkind Rotkäppchen bringt einen Pfannkuchen und ein Buttertöpfchen, die Euch Mutter schickt. Der Wolf herrschte sie an und dämpfte seine Stimme nur ein wenig: Zieh am Pflock und der Riegel wird fallen. Rotkäppchen zog am Pflock und die Tür ging auf. Der Wolf sah sie hereinkommen, verbarg sich im Bett unter der Decke und sprach zu ihr: Stelle den Pfannkuchen und das Buttertöpfchen auf den Brotkasten, komm und leg dich zu mir. Rotkäppchen zog sich aus und ging zu Bett, wo es sehr erstaunt war, als es sah, wie die Ältermutter in ihrem Nachtkleid aussah und sagte zu ihr: Ältermutter, was habt Ihr für große Arme? Um dich besser umarmen zu können, mein Tochterkind. Ältermutter, was habt Ihr für lange Beine? Um besser laufen zu können, mein Tochterkind. Ältermutter, was habt Ihr für große Ohren! Um besser zu hören, mein Tochterkind. Ältermutter, wie groß Eure Augen sind! Um besser zu sehen, mein Tochterkind! Ältermutter, was habt Ihr für große Zähne! Sie sind da, um dich zu fressen! Und als er diese Worte sprach, warf sich der böse Wolf auf Rotkäppchen und fraß es.

 

MORAL

Man sieht hier, dass junge Kinder,

Vor allem junge Mädchen,

Schön, wohlgeschaffen und lieb,

Sehr schlecht daran tun, auf alle möglichen Leute zu hören,

Und dass es nichts Verwunderliches ist,

Wenn es so viele sind, die der Wolf frisst.

Ich sage der Wolf und meine alle Wölfe,

Denn sie sind nicht alle von derselben Art;

Es gibt welche von umgänglichem Charakter

Ohne Lärm, ohne Galle und ohne Zorn,

Die, vertraut, gefällig und sanftmütig,

Denen die jungen Damen folgen,

Bis in die Häuser, sogar in die Wandbetten;

Aber ach! die nicht wissen, dass diese zuckersüßen Wölfe,

Von allen Wölfen die gefährlichsten sind!

 

Für die Hilfe bei der Übersetzung ein herzliches Dankeschön an Dr. Jean Lefebvre.

mere-grand ist eine alte Form für grand-mère, daher übersetze ich sie als Ältermutter (Grimm Deutsches Wörterbuch: ältermutter, f. proavia: altmutter, eltermutter, groszmutter) und analog dazu ma fille als Tochterkind (Grimm Deutsches Wörterbuch: tochterkind, n. enkel als kind der tochter).

une galette wird meistens als Kuchen übersetzt; es handelt sich bei den galetes (!), die die Mutter gebacken hat, aber um flache Buchweizen-Pfannkuchen.

Die chevillette ist ein kleiner Pflock, der von innen blockiert werden kann, so dass ein Besucher ihn nicht entfernen und die Tür nicht öffnen kann.

Die bobinette ist ein bewegliches Stück Holz, das mit einem Pflock gegen den Flügel einer Tür gehalten wird und abfällt, wenn der Pflock entfernt wird, um die Tür zu öffnen.

Die Verbform cherra ist die dritte Person Singular des Futurs des Indikativs des Verbs chor und bedeutet „sie wird fallen“. Il tomba wird manchmal auch auf die gleiche Weise wie il cherra verwendet.

 

Der Text entspricht mit wenigen Umstellungen dem Manuskript von 1695; lediglich die „Moralité“ wurde erheblich erweitert.

 

  

 

Perraults große künstlerische Errungenschaft besteht in seiner Aneignung von Volksmotiven; er verlieh ihnen einen neuen ideologischen Inhalt und stilisierte die Fabelelemente so, daß sie dem Oberschicht-Publikum von Kindern und Erwachsenen gemäßer wurden. Während sich das mündliche Märchen direkt auf aktuelle Landesbedingungen bezieht, mit denen Bauern und Dörfler konfrontiert waren, geht Perraults literarische Version von einem allgemeineren Aspekt aus. Sie handelt von Eitelkeit, Macht und Verführung und fuhrt ein neues Kind ein, das hilflose Mädchen, das unbewusst zu seiner eigenen Vergewaltigung beiträgt. Verschwunden sind die vermeintlichen Grausamkeiten und die Derbheit des mündlichen Märchens. Die verfeinerten Elemente des literarischen Märchens trugen allerdings zu einem Rotkäppchenbild bei, das ihr Leben noch komplizierter machte, als es jemals gewesen war.

Perraults historischer Beitrag ist widersprüchlich und muss im Licht der französischen Sozialgeschichte und seiner eigenen persönlichen Vorurteile gesehen werden. Einerseits ist er für die Umgestaltung der Folklore in eine exquisite literarische Form verantwortlich. Andererseits ist er aber auch »schuldig«, rigorose Verhaltensmuster gesetzt zu haben in der – zeitgemäßen – Absicht, die Natur der kindlichen Entwicklung zu regulieren und einzuschränken. Diese widersprüchliche Position ist ebenfalls in den Arbeiten französischer Märchenschriftsteller auffällig wie Lheritier, D'Aulnoy, Leprince de Beaumont und einer großen Anzahl anderer unter der Regierung Ludwigs XIV.: Sie versuchten, Kinder zu zivilisieren, indem sie ihre Antriebe hemmten. Das führte dann zu einer verdrehten Darstellung von sexuellem Rollenverhalten. Das heißt nicht, Perrault und seine Zeitgenossen hätten schändliche Pläne gehabt und sich verschworen, die Köpfe der Kinder mit Illusionen zu füllen. Im Gegenteil: Perrault war trotz seiner ironischen Haltung zur Folklore und seiner zweifachen Intention: für Kinder und Erwachsene mit moralischer Leidenschaft und Charme zu schreiben, aufrichtig.
Jack David Zipes: Rotkäppchens Lust und Leid. Biographie eines europäischen Märchens. Neu durchgesehene und erweiterte Ausgabe. Frankfurt 1985, S. 26f.

 

Von den überlieferten Rotkäppchen-Varianten sind diejenigen der französischen Redaktion als die ursprünglichsten anzusehen, da sie der erschlossenen Urform am ähnlichsten sind. Durch Veränderungen (Streichung des kannibalistischen Zuges, Blumenpflücken statt épingles [Stecknadeln] sammeln) umgestaltet, wurde das Märchen 1697 Perrault aus dem Volksmund überliefert und in den „Contes des ma mêre l’Oye“ erstmalig gedruckt. Neben der durch die Perraultsche Sammlung bekanntgewordenen veränderten Fassung des Rotkäppchens lebte das ursprüngliche Märchen in der mündlichen Tradition, wie die erst dann aufgezeichneten Varianten beweisen, in Frankreich bis Ende des 19. Jahrhunderts weiter.
Marianne Rumpf: Rotkäppchen. Eine vergleichende Märchenuntersuchung. (Phil. Diss, Göttingen 1950.) Frankfurt am Main 1989. Artes populares Bd. 17, S. 93.

 

 

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