„Unvorsichtigkeit oder gar Tollkühnheit“ -Ein Badeunfall vor Westerland 1887

 

 

„Wie ganz anders ist hier das Meer als drüben auf den Watten, wo die Dampfer, welche die Gäste nach Sylt bringen, ihren Weg suchen! Klar wie Crystal ist hier die Woge, die unsern  Fuß netzt, während dort dunkle Bestandteile das Wasser trüben. Wie herrlich ist der Anblick des blaugrünen, wallenden Meeres, über welches sich schreiende Möwen erheben, die ab und zu in die Fluten tauchen! Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne vergolden den Kamm der Wellen, und vor uns liegt das Meer in majestätischer Pracht.“ (Christian Jensen: Die nordfriesischen Inseln, S. 86f.

 

An der Küste vor Westerland bei Flut 1887. Foto von Paul Ebe Nickelsen, Westerland

 

Der Sylter Landarzt Dr. Otto Jenner, der 1870 in Westerland als Badearzt praktizierte, warnte fünfzehn Jahre zuvor in seiner Schrift: „Einige Verhaltensregeln beim Gebrauch des Sylter Seebades“, die C. P. Hansen seinem 1870 gedruckten Reiseführers „Der Badeort Westerland auf Sylt“ voranstellte:

„Bei heftigen Winde und starken Wellenschlage ist bei Ebbezeit dem Badenden Vorsicht zu empfehlen und derselbe versäumen nicht, sich der Anker und Taue zu bedienen, um sich sicherer und leichter dem Andränge der Wogen entgegenzustemmen namentlich dem rückwärtsströmenden Wasser, das sich besonders als ein Zug nach außen an den Füßen bemerkbar macht, ein Gegengewicht entgegensetzen zu können. Ingleichen mögen die Herren ihre Kräfte nicht durch zu weites Schwimmen erproben wollen, da durch den ablaufenden Strom das Schwimmen von der Insel sehr erleichtert, das Zurückkehren sehr erschwert ist. Namentlich gehe man nie bei starkem Wellenschlage über die erste Brandung hinaus.“

Als Theodor Storm Sylt im August 1887 besuchte, tobte ein schwerer Sturm über Nordfriesland; die Reisenden spürten ihn am 9. August bei ihrer Überfahrt vom Festland zur Insel und auch an den nächsten Tagen waren die Nachwirkungen noch immer zu sehen. In seinem Tagebuch notiert Storm am 12. August: „Bis jetzt Sturm, der uns die Majestät des Meeres zeigte. [...] es ist 6 Uhr morgens; noch immer Sturm und Regen über der melancholischen Dünenlandschaft und Möwenschrei.“

 

Wltžek’s colorierter Führer durch die Norseebäder

 

Der Badebetrieb am Strand von Westerland war streng reglementiert; der Oberwärter, bzw. die Oberwärterin waren angewiesen, auf die Badenden acht zu geben, sie vor gefährlichen Stellen im Wasser zu warnen und ihnen im Notfall Hilfe zu leisten. Am Herrenstrande befand sich ein Rettungsboot, mit dessen Führung die Badewärter vertraut waren. Am Damenstrande lagen verschiedene Badeleinen (Leitseile), außerdem waren Wurfstöcke mit Rettungstauen vorhanden.

 

Am Sonntag, der 14. August, verließ eine kleine Reisegesellschaft Westerland im Wagen; neben der Familie Pollacsek begleiteten Storm sein Freund Christoph von Tiedemann und zwei Damen aus Hamburg. Als sich Storm auf einer Düne bei Wenningstedt den dramatischen Stoff zur „Sylter Novelle“ erzählen ließ, ereignete sich nur vier Kilometer südlich ein spektakulärer Badeunfall, der für Wochen Gesprächsstoff der Westerländer Badegesellschaft werden sollte.

Ein Kurgast aus Böhmen, so teil die Direktion des Kurbades drei Tage später mit, war „eine erhebliche Strecke ins Meer hinausgeschwommen“. Da nach dem Sturm, der laut Tagebucheintragung Storms noch bis Freitag gewütet hatte, eine starke Unterströmung herrschte, schaffte der Mann es nicht, ans Ufer zurückzukehren.

 

Badewärter, Foto aus den 1890er-Jahren aus: Manfred Wedemeyer und Harald Voigt: Westerland, S. 42.

 

Der Badewärter Carl Peters eilte – unterstützt von einem mutigen Badegast – dem Ertrinkenden angeleint zur Hilfe und warf ihm einen Rettungsring zu. Damit konnte er sicher an Land gezogen werden. Allerdings geriet nun der Oberwärter Schwensen in Lebensgefahr, der dem Badegast von der anderen Seite zur Hilfe kommen wollte, sich dabei aber „zu weit vorgewagt hatte“ und von der Unterströmung in die Nordsee hinausgezogen wurde. Eine weitere Rettungskolonne „musste ins Wasser geschickt werden“, die ihn schließlich mit Hilfe einer Rettungsstange ans Ufer ziehen konnte. Der Mann war gerettet, aber er lag in tiefer Ohnmacht. Der herbeigerufene Badearzt Dr. Lahusen, bei dem Lucie Storm in Behandlung war, konnte den Oberwärter mit Unterstützung einiger Ärzte unter den Badegästen erst nach einer halben Stunde wiederbeleben. Offenbar wurde der Badewärter bei dem Unfall erheblich verletzt, denn der Bericht erwähnt die Notwendigkeit weiterer ärztlicher Behandlungen.

 

Oberwärter Schwensen

 

Großzügig spendete der gerettete Badegast 100 Mark zu Gunsten des beinahe ertrunkenen Mannes, sehr großzügig erwies sich auch die übrigen Herren der Badegesellschaft, die bei einer sofort veranstalteten Sammlung mehr als tausend Mark zusammenbrachten. Von dem Geld erhielt der Oberbadewärter 900, der Rest von 260 Mark wurde Badewärter Peters ausgehändigt, der sich ebenfalls bei der Rettungsaktion in Lebensgefahr gebracht hatte. Das ist eine wirklich großzügige Summe, wenn man bedenkt, dass die jährliche Pension des Oberamtsgerichtsrates Theodor Storm im selben Jahr nur knapp das Dreifache betrug.

 

Sturm am Westerlander Badestrand

 

 

Der Bericht in der Sylter Kur-Zeitung vom 17. August 1887 stammt aus der Feder von Direktor Pollacsek persönlich, der nicht versäumte, am Schluss des Artikels den „rasch entschlossenen Herren, welche die Strandangestellten so wirksam unterstützten, wie auch dem gesamten Badepublikum, das so große Teilnahme für die bei dem Unfall Beteiligten bekundet hat“, innigst und wärmstens zu danken. In derselben Zeitung ließ er einen Dank an die Herren abdrucken, die die Sammlung angeregt hatten.

 

Sylter Kur-Zeitung vom 17. August 1887

 

Der Vorfall schlug hohe Wellen, selbst in der Abendausgabe der in Berlin erscheinenden Norddeutschen Allgemeinen Zeitung konnte man am Mittwoch, den 17. August 1887 einen Bericht lesen.

Natürlich hat Pollacsek sofort gehandelt und das Aufsichtspersonal am Strand verstärkt. Außerdem betont er ausdrücklich, dass „eine Gefahr durch das Baden am Sylter Badestrand absolut ausgeschlossen“ sei.

 

Badewärter mit Badekarren von Westerland. Foto aus: Georg Quedens und Hans-Jürgen Stöver: Sylt wie es früher war, S. 75

 

Pollacsek wusste als erfahrener Unternehmer, wie er einer möglichen Kritik durch eine geschickte Öffentlichkeitsarbeit begegnen musste; am Freitag derselben Woche veröffentlichte die Sylter Kur-Zeitung eine „Bekanntmachung“:

 

  

Sylter Kur-Zeitung vom 17. und 19. August 1887