Die Sonnenuhr auf der Place de la Concorde

 

 

Kaum einer der Tausenden von Touristen, die täglich zur Mitte der Place de la Concorde laufen, am Fuße des riesigen Obelisken die historischen Inschriften studieren, und die dann zu den eingemeißelten Hieroglyphen hinaufblicken, weiß etwas von der Großen Sonnenuhr, an deren Basis er gerade steht. Die wenigen Spuren einer gelblichen Masse auf dem Pflaster, aus der auch die Streifen der Fußgänger-Überwege gemacht sind, haben zigtausende von Fußsohlen abgerieben. Und die von hunderttausend Autoreifen blankgeputzten Messingnägel der strahlenförmig angeordneten Stundenlinien im Pflaster der Fahrwege hat er - wie die meisten seiner Zeitgenossen auch - übersehen. Es ist an der Zeit, ihn und seine Mitmenschen über eine der größten Sonnenuhren der Welt aufzuklären.

Der Obelisk stand ursprünglich vor dem Durchgang zum Luxor-Tempel in Theben, wo Pharao Ramses II. zwei 23 m hohe, je etwa 250 Tonnen schwere Monolithe aus Granit errichten ließ. Im Jahre 1834 schenkte der ägyptische Vizekönig Muhammad Ali Pascha die beiden Obeliske dem Französischen König Louis Philippe. Einer der beiden wurde unter Leitung von Jean-François Champollion unter großen Mühen umgelegt, auf einem extra dafür gebauten Schiff nach Frankreich transportiert und dort unter großer Anteilnahme der Pariser Bevölkerung am 25. Oktober 1836 auf der Place de la Concorde aufgerichtet. Mit dem antiken Monument wollte der Bürgerkönig die Erinnerung daran tilgen, dass nahe dieser Stelle Ludwig der Sechzehnte geköpft worden war. Das Gegenstück steht noch heute an seinem ursprünglichen Ort an der Ostseite des Durchgangs zum Tempel, denn der Aufwand für einen zweiten Transport dieser Größenordnung war der französischen Regierung zu hoch. Die Geschichte der spektakulären Reise kann man heute an den vier Seiten der Basis des Monolithen nachverfolgen.

 

   

 

Wenn man zur Mittagszeit bei Sonnenschein in der Nähe des mehr als 33 Meter senkrecht in den Himmel ragenden Monolithen steht, sieht man einen Schatten, der nach Norden zeigt. Der aufmerksame Besucher kann jetzt die Stundenlinie erkennen, die von seinem Standort aus ungefähr auf das Hotel Crillon weist. Wenn er genau schaut, kann er in einem Kästchen sogar die römische Ziffer XII erkennen. Die Linie endet an der Bordsteinkante des Trottoirs, wird aber von etwa 10 cm großen Messingknöpfen in der gepflasterten Fahrbahn fortgeführt. Wenn der Besucher den ampelgesicherten Überweg nimmt und auf den nordwestlichen Teil es Platzes hinüberwechselt, findet er die Mittagslinie wieder.

Die Idee, auf dem Place de la Concorde eine riesige Sonnenuhr zu installieren und den Obelisk als Zeiger zu nutzen, stammt von dem Astronomen Camille Flammarion (1842-1925), dem Begründer der Société Astronomique de France. Der Erste Weltkrieg verhinderte jedoch die Verwirklichung seines Plans.

In den 1930er Jahren regte seine Witwe Gabrielle Flammarion den Architekten Daniel Roguet dazu an, die Idee neu zu beleben und legte den Pariser Stadtverantwortlichen ein Konzept vor. Im Jahre 1939 wurde eine heute noch vorhandene Mittagslinie der Sonnenuhr auf der Nordseite im Pflaster verlegt. Der Kriegsausbruch beendete jedoch auch diese zweite Anlauf.

Anlässlich der Feiern zum Jahrtausendwechsel 2000 haben Philippe de la Cotardière, der ehemalige Vorsitzende der Astronomischen Gesellschaft Frankreichs, und Denis Savoie, der Vorsitzende des Ausschusses für Sonnenuhren, das zweimal gescheiterte Projekt von Camille Flammarion wieder aufgegriffen. Diesmal wurde ein großflächiges Zifferblatt auf das Pflaster der Trottoirs aufgemalt; die Stundenlinien auf den Fahrstraßen sind durch runde Messingplatten markiert. Das Werk wurde im Sommer des Jahres 1999 eingeweiht. Durch diese Markierungen, die inzwischen weitgehend verblasst sind, sollte die regelmäßige Bewegung der Sonne am Himmel veranschaulicht werden.

 

 

Der Himmelsmeridian ist eine gedachte Linie vom Nordpunkt des Horizonts zum Südpunkt, die Stelle senkrecht über dem Betrachter heißt Zenit. Diesen erreicht die Sonne nur zwischen dem nördlichen und dem südlichen Wendekreis; an allen nördlicher oder südlicher gelegenen Orten entspricht die maximale Sonnenhöhe am Tage der Sommersonnenwende der geographischen Länge; der maximale Höhenwinkel in Paris beträgt ca. 56°.

 

Astronomisches Koordinatensystem des Horizonts (Dr.-Ing. S.Wetzel)

 

Sonnenuhren zeigen den veränderlichen Stand der Sonne am Himmel als Tageszeit an. Als Zeiger dient meistens der linienförmige Schatten, den ein Stab in die der Sonne entgegen gesetzte Richtung wirft. Sein Schatten bewegt sich während des Tages über ein Zifferblatt, auf dem die Stunden durch Linien markiert sind. Es gibt vertikale Sonnenuhren, die vorwiegend an Gebäuden angebracht sind; bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dienten sie dazu, die exakte Mittagsstunde eines Ortes anzuzeigen, nach der dann die mechanischen Uhren justiert wurden. Heute finden wir sie nur noch Schmuck an Gebäuden oder in Gärten und Parkanlagen.

Horizontalsonnenuhren haben ein Zifferblatt, das flach auf dem Bode angebracht ist. Im Gegensatz zur Vertikalsonnenuhr zeigen sie auch die frühen Morgen- und die späten Abendstunden an. Ihr Schattenstab heißt Polos und weist zumeist in Richtung auf den Himmelspol.

Bereits die Römer wussten, dass man auch senkrecht stehende Schattenstäbe zur Anzeige des Sonnenstandes nutzen konnte. Der berühmte Obelisk des römischen Kaisers Augustus auf dem Marsfeld in Rom wurde als Mittagsweiser verwendet und zeigte die Jahreszeiten an.

 

http://www.physik.de.rs/images/large/303686/SchattenstabSonnenstand1.jpg?t=1360427038.1446

 

Wie der riesige Obelisk auf der Place des la Concord seine Funktion als Schattenweiser wahrnehmen kann, hat uns freundlicherweise Denis Savoie (Commission des cadrans solaires de la Société astronomique de France) erklärt.

Die Erde dreht sich in 23h56 um sich selbst von Westen nach Osten in Bezug zum Sternenhimmel. Daher hat man den Eindruck, dass der Himmel sich drehe, und zwar in der entgegen gesetzten Richtung, und die Sterne, Planeten, die Sonne und den Mond mit sich zieht. Dies nennt man die Tagesbewegung. Der Sonnentag ist der Zeitraum von einem Sonnenhöchststand zum nächsten und dient als Basis unserer alltäglichen Zeitmessung. Er dauert im Mittel 24 Stunden und ist damit etwas länger als ein Sterntag. Der Unterschied zwischen der Länge des Sternentags und der Länge des Sonnentags resultiert aus der jährlichen Bewegung der Erde um die Sonne.

Die Sonnenuhr der Place de la Concorde zeigt die exakte solare Zeit an, die bis 1816 die offizielle Pariser Zeit war. Leider stimmt diese Zeit nicht mit der Zeit auf unseren Uhren überein. Für diese Abweichung gibt es zwei Gründe.

 

Die Ekliptik ist die scheinbare Bahn der Sonne im Lauf eines Jahres vor dem Fixsternhintergrund. Sie resultiert aus dem Umlauf der Erde um die Sonne. Da die elliptische Erdbahn im Laufe des Jahres mit variabler Geschwindigkeit durchlaufen wird und weil die Ekliptik zum Himmelsäquator geneigt ist, sind nicht alle Sonnentage eines Jahres gleich lang. Man unterscheidet daher den wahren Sonnentag als Zeitraum zwischen zwei Sonnenhöchstständen und den stets gleich langen mittleren Sonnentag, dessen Länge den über ein Jahr gemittelten Längen der wahren Sonnentage entspricht. Den mittleren Sonnentag hat man in 24 Stunden eingeteilt. Daher laufen unsere mechanischen und elektronischen Uhren nach einer „mittleren Sonne“, die die Sonnenuhren hingegen zeigen die wahre Sonnenzeit eines bestimmten Ortes an.

Diese beiden Gründe zusammen bewirken, dass zwischen zwei Durchgängen der Sonne am Meridian einer gegebenen Stelle nicht genau 24 Stunden verstreichen, sondern etwas mehr oder weniger. Das bedeutet, dass die Sonne jeden Tag ihrer Zeit voraus oder verspätet ist im Vergleich zu einer gedachten Sonne, die genau nach 24 Stunden zum Meridian zurückkehren würde.

Die Astronomen haben deshalb eine mittlere Sonnenzeit definiert; das heißt eine gleich bleibende Zeit, die sich von einer imaginären Sonne, der mittleren Sonne, ableitet. Der Unterschied zwischen der mittleren Sonnenzeit und der wahren Sonnenzeit wird Zeitgleichung genannt. Es handelt sich dabei um sich täglich verändernde Zeitabschnitte, die Anfang November -16 Minuten und im Februar + 14 Minuten erreichen können. Die Kenntnis dieser Veränderungen ist unerlässlich, um die auf einer Sonnenuhr abgelesene lokale wahre Sonnenzeit in die mittlere Ortszeit umzurechnen, die unsere Uhren anzeigen.

Betrachten wir nun, wie sich die Zeit unterhalb des Obelisken auf der Place de la Concorde ablesen lässt.

Im Verlauf des Tages durchläuft der Schatten der Spitze des Obelisken den Platz von Westen nach Osten, vom Sonnenaufgang bis zum Untergang. Während der Schatten am Morgen sehr lang ist, ist er zur Sonnenmittagszeit am kürzesten. Anschließend wird er am Nachmittag wieder länger. Wenn die Spitze des Schattens auf eine am Boden eingezeichnete Zeitlinie trifft, kann man an dieser Linie die Zeit ablesen. Aus praktischen Erwägungen wurde die Markierung auf die Zeit zwischen 7 und 17 Uhr begrenzt.

 

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Rekonstruktion des Zifferblatts auf der Place de la Concorde;
grüner Punkt: Äquinoxial-Linie; roter Punkt: Messingplatte mit Inschrift

 

Einige Meter weiter nördlich befindet sich ein Teil einer geraden Linie: es handelt sich um die Äquinoxial-Linie, die die Wanderung des Schattens am 20. März und am 23. September sichtbar macht. Äquinoktium oder Tagundnachtgleiche werden die beiden Tage im Jahr genannt, an denen der lichte Tag und die Nacht gleich lange dauern. Die Tagundnachtgleichen markieren den kalendarischen Anfang der astronomisch definierten Jahreszeiten von Frühling und Herbst.

 

Wenn man beispielsweise 14 Uhr auf der Sonnenuhr abliest, handelt es sich um die lokale wahre Sonnenzeit von Paris. Wird die Zeitgleichung dazugerechnet, erhält man die mittlere Sonnenzeit. Aber diese Zeitangabe muss noch zweimal korrigiert werden.

Zuerst muss nach dem Längengrad entsprechend korrigiert werden, denn eine Sonnenuhr in Straßburg und eine andere in Brest zeigt im selben Augenblick nicht dieselbe Zeit an. Zwei Orte auf verschiedenen Längengraden haben nämlich unterschiedliche Zeiten. Bis ins 19. Jahrhundert hatte jede Stadt ihre eigene Uhrzeit, doch die Entwicklung der Verkehrsmittel bewirkte die Einführung einer einheitlichen Zeit auf dem gesamten Territorium Frankreichs. Zwischen 1891 und 1911 richtete die Zeit sich zunächst an dem Meridian von Paris aus. 1911 orientierte Frankreich sich dann wie alle Staaten nach dem internationalen Meridian von Greenwich bei London.

Deshalb muss die auf der Sonnenuhr abgelesene Zeit nicht nur durch die Zeitgleichung korrigiert werden, sondern auch durch den Längengrad des Ortes. Der Längengrad des Place de la Concorde beträgt Ost 2°19'16.4"; wenn die Sonne am Meridian steht, erreicht sie den internationalen Meridian von Greenwich 9 Minuten und 17 Sekunden später.

Es muss aber noch ein zweiter Unterschied berücksichtigt werden. Die Differenz der Mitteleuropäischen Zeit zur Westeuropäischen Zeit, die nach dem Meridian von Greenwich festgelegt wurde, beträgt + 1 Stunde. Diese Abweichung der Ortszeit von der Greenwich Mean Time GMT oder von der Koordinierten Weltzeit UTC (deutsch mittlere Greenwich-Zeit) ist die mittlere Sonnenzeit am Nullmeridian.

Die folgende Tabelle zeigt die Abweichung der Ortszeit in Paris von der mittlere Greenwich-Zeit.

Korrekturen der wahren Sonnenzeit von Paris in Minuten (+)

Tage

5

10

15

20

25

30

Januar

56

58

60

62

63

64

Februar

65

65

65

65

64

64

März

62

62

60

58

57

55

April

53

52

51

50

49

48

Mai

47

47

47

47

48

48

Juni

49

50

51

52

53

54

 

5

10

15

20

25

30

Juli

55

56

57

57

57

57

August

57

56

5

54

53

51

September

49

48

46

44

42

41

Oktober

39

38

36

35

35

34

November

34

35

35

36

38

40

Dezember

41

44

46

48

51

53

 

Diese Korrekturen müssen wegen der Mitteleuropäischen Sommerzeit zwischen dem letzten Sonntag im März und dem letzten Sonntag im Oktober um eine weitere Stunde ergänzt werden. Die von der Sonnenuhr abgelesene Zeit wird umgerechnet, indem man die dem Datum entsprechende Korrektur anbringt und während der Sommerzeit eine Stunde hinzufügt.

Ein Beispiel: wenn am 5. Juli der Schatten die X-Uhr-Linie erreicht, die Korrektur für diesen Tag 55 Minuten beträgt und außerdem Sommerzeit gilt, zeigt die Armbanduhr 10 Stunden + 55 Minuten + 1 Stunde an = 11 Uhr 55.

Ein anderes Beispiel: wenn man am 25. November 13 Uhr auf der Sonnenuhr abliest, zeigt die Armbanduhr 13 + 38 Minuten = 13 h 38. Wenn man ein Datum hat, das nicht auf der Tabelle erscheint, genügt es, eine bestmögliche Schätzung vorzunehmen. So kann man für den 18. Dezember um Beispiel eine Korrektur von 47 schätzen.

 

Nachdem auf diese Weise die Zeitanzeige der Sonnenuhr kein Rätsel mit sieben Siegeln mehr sein muss, gilt es noch ein anderes Rätsel zu lösen.

Aus den 1930er Jahren ist eine Messingplatte im Pflaster erhalten, die ein paar Meter von der Basis des Obelisken entfernt in die 12-Uhr-Linie eingefügt wurde (auf der Abbildung rot markiert). Ihre Inschrift lautet:

 

Au levant de Thèbes surgit à Paris le nord

 

Was mag dieser Satz bedeuten? Er lässt sich ins Deutsche so übersetzen: Wenn die Sonne in Theben aufgeht (levant astronomisch: Punkt auf der Erde, wo die Sonne zum Vorschein kommt; bei Sonnenaufgang, bei Tagesanbruch), erhebt sich in Paris der Norden (surgir: auftauchen, zum Vorschein kommen, sich erheben, hervorgehen, plötzlich hervortreten).

Die Platte ist an der Stelle in das Pflaster eingelegt, auf den die Spitze des Obelisken am 21. (bzw. 20.) Juni zeigt, wenn die Sonne am nördlichen Wendekreis mittags im Zenit steht. Der Schatten ist dann am kürzesten. Dieser Tag ist auf der nördlichen Erdhälfte der längste Tag des Jahres und heißt Tag der Sommersonnenwende.

 

                       

 

Der höchste Punkt, den die Sonne an diesem Tag in Paris erreicht, ist aber nicht der Zenit, sondern ein Punkt auf dem Meridian, der von der geographischen Breite abhängt. Der Sonnenstand ist die scheinbare, momentane Position der Sonne über dem Horizont, der durch zwei Winkel an der Himmelskugel angegeben werden kann: die Himmelsrichtung und die Höhe der Sonne. Dieser Höhenwinkel beträgt in Paris (48°51′56″ nördliche Breite) ca. 65°.

Theben war eine am Nil liegende altägyptische Stadt in Oberägypten; heute wird damit nur noch das Gebiet auf der westlichen Nilseite bezeichnet. Die Stadt Luxor mit ihrer berühmten Tempelanlage liegt am östlichen Ufer des Nils etwa im Zentrum Oberägyptens auf 25°42′ nördlicher Breite. Das Azimut für den Ort des Sonnenaufgangs variiert übers Jahr relativ zur Himmelsrichtung Osten; am 21. Juni geht in der Landschaft Theben die Sonne mit einem Winkel zwischen der Meridianebene und der Vertikalebene der Sonne auf, der ebenfalls ca. 65° beträgt.

(Diese Überlegungen beruhen auf einem Deutungsvorschlag von Garry Wasikowski, vergl.
http://www.cnesobservatoire-cosmothropos.fr/index.php?opt=visualbum&id=412.)

 

Also erläutert der Satz Wenn die Sonne in Theben aufgeht, erhebt sich in Paris der Norden ein Naturphänomen, dass nämlich am Tag der Sommersonnenwende die Sonne in Theben mit einem Azimut aufgeht, das genau dem Höhenwinkel der Sonne am Mittag in Paris am selben Tag entspricht. Und dies zeigt die Schattenspitze des Obelisken im Norden auf der Platte mit der Inschrift nur an diesem einen Tag im Jahr an. – Welch ein Zufall!

 

Mein herzlicher Dank gilt Marianne Depierre und Jean Lefebvre für Übersetzungen aus dem Französischen.

 

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